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Lernen, nicht zu putzen

Ordnung schaffen kann jeder, der es will; Unordnung ertragen nicht. Ordnung ist das halbe Leben, Sauberkeit die andere Hälfte. Und wer mehr vom Leben will, muss lernen, Unordnung zu ertragen und sich Idealvorstellungen zu widersetzen.

Sauberkeit und Ordnung ist ja gut und schön, solange es dem eigenen Wohlbefinden oder der eigenen Gesundheit dient. Sobald jedoch die ersten Anzeichen von „Putzen, weil Besuch kommt“ und „Straße kehren, weil Samstag ist“ zu erkennen sind, wird die Sache gefährlich. Denn man tritt in eine Mühle voller Erwartungshaltungen – und die läuft nur noch vorwärts. Am Ende dreht sich das ganze Leben darum, die Erwartungshaltung des Ehepartners, der Kinder, des Kegelklubs und der Nachbarn, der Freunde und der Schwiegereltern zu erfüllen und die eigenen Bedürfnisse werden „unter den Teppich gekehrt“. Widersetzen Sie sich!

Ihr Charakter wird vom Putzen auch nicht besser

Wenn Sie putzen, weil sich Besuch angekündigt hat, unterstellen Sie dem Besuch indirekt, dass er Sie mit einer ungeputzten Wohnung nicht oder weniger akzeptieren würde. Sofern es einen Grund gibt, Sie nur wegen einer blitzblanken Wohnung zu mögen, sollten Sie in der Tat an sich arbeiten. Putzen hilft da allerdings nicht. Wenn Sie sich aber Ihrer selbst wegen für einen liebenswerten Menschen halten, haben Sie es gar nicht nötig, sich am Glanz Ihrer Fliesen messen zu lassen. Und das heißt nicht, dass Putzen grundsätzlich nur was für Menschen mit schlechtem Selbstwertgefühl ist.

Selbstwert bedeutet, man ist es sich selbst wert

Aber der Grund für die Mühe sollten nicht andere sein, sondern Sie selbst. In der Regel fühlen sich Menschen in einer klaren, sortierten, gut riechenden Umgebung tatsächlich wohler. Und in der Regel sorgen Sie auch instinktiv von Zeit zu Zeit dafür, sich eine solche Umgebung zu schaffen. Doch wenn das Bedürfnis nach Klarheit und Duft zufälligerweise immer zeitgleich mit der Besuchsankündigung der Schwiegereltern entsteht oder man wie von Zauberhand jeden Samstag – pünktlich, um die Erwartungshaltung der Nachbarn zu erfüllen – das unbändige Bedürfnis nach einer sauberen Hofeinfahrt hat, sollte man sein „eigenes“, „unabhängiges“ Bedürfnis nach Ordnung und Sauberkeit einmal kritisch beleuchten. Häufig trügt der Schein nämlich und das Ordnungs- und Sauberkeitsbedürfnis ist nichts anderes als ein Bedürfnis nach Akzeptanz, aus dem der Zwang zur Erfüllung von Erwartungshaltungen anderer resultiert.

Aus der Mühle ausbrechen

Theoretisch ist das vielleicht alles einleuchtend. Aber wie kann man praktisch aus der ständig vorwärts drehenden Mühle ausbrechen? Probieren Sie einmal folgende Übung: Wenn sich der nächste Besuch ankündigt, lassen Sie bewusst alles so wie es ist: das dreckige Geschirr in der Spüle, den Schlafanzug vor dem ungemachten Bett, die ausgedruckten WF-Artikel auf dem mit Katzenhaaren übersäten Sofa. Und wenn sich Ihr Besuch auch wundert, verkneifen Sie sich jeglichen Rechtfertigungsversuch. Halten Sie die Verwunderung einfach aus.

Sie werden merken, dass die „Frechheit“, die Erwartungen anderer einfach nicht zu erfüllen, ein äußerst freiheitliches Gefühl sein kann, um das Sie sogar der besagte Besuch beneiden wird.