Achtsamkeit üben heißt, Freundschaft mit sich selbst zu schließen

Das MBSR-Training von Jon Kabat-Zinn weist über das Üben von Achtsamkeit den freundliche Weg zum Selbst und dient so der Stressbewältigung.

Jon Kabat-Zinn hat 1979 mit seinen Mitarbeitern in der Stress Reduction Clinic der Universität Massachusetts einen ganz neuen Weg in der medizinischen Betreuung von Patienten betreten. Er übersetzte die meditative Praxis der Achtsamkeit dergestalt, dass die hilfreichen Aspekte der Meditation für medizinische Zwecke nutzbar wurden. Für das erfolgreiche Absolvieren der Technik braucht es keinen religiösen oder kulturellen Hintergrund. Das Achtsamkeitstraining MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) ist seither in der Klinik des Gründers und weltweit mit Erfolg angewendet worden und wurde ausgiebig wissenschaftlich begleitet.

Was war der Auslöser, das MBSR-Training zu entwickeln?

Jon Kabat-Zinn und seine Mitarbeiter haben aus einer klinischen Beobachtung heraus das MBSR entwickelt. Besonders bei Schmerzpatienten, die schulmedizinisch austherapiert waren, machten sie die Erfahrung, dass das Wohlbefinden und der gesundheitliche Zustand von Menschen, die bestens aufgeklärt und medikamentös eingestellt sind, auch vom eigenen Bewertungsverhalten abhängt. Je mehr diese Menschen sich und die Welt bewerteten, umso schlechter ging es ihnen, denn erstens kostet das Bewerten Kraft und zweitens entstehen Zustände hoher physiologischer Erregung, wenn Menschen sich an gegebenen Zuständen abarbeiten, also der festen Meinung sind, dass diese oder auch das Verhalten von anderen Menschen falsch sind und nicht davon abstrahieren können, dass ihre Weltsicht zwar ein willkommener Teil der Realität ist, aber eben nicht die einzige oder gar wahrhaftige Realität. Die dabei entstehende hohe Erregung ist physiologisch und wird von vielen, auch ein Bewertungsvorgang, als Stress bezeichnet.

Entsprechend suchte das Team um Jon Kabat-Zinn eine Möglichkeit, dieses Bewertungsverhalten erfahrbar zu machen und diese Fähigkeit für das Wohlbefinden der Patienten zu nutzen. Nach Verschlankung der Achtsamkeitsmeditation um den religiösen und kulturellen Hintergrund entstand das MBSR, ein Achtsamkeitstraining zur Stressbewältigung. Dieses ist mittlerweile von tausenden Menschen weltweit absolviert und wissenschaftlich begleitet worden und kann erstaunliche Ergebnisse vorweisen.

Warum bewerten Menschen überhaupt?

Die permanente kognitive Bewertung ist etwas, was allen Menschen eigen ist, teilweise ist diese Gewohnheit sogar so mächtig, dass darunter das Erleben des realen Lebens gar nicht mehr möglich ist. Das Bewerten hält davon ab, wahrzunehmen, was wirklich ist. Entsprechend kreisen die Menschen weiter in ihren Köpfen mit all dem, was es da zu finden gibt: eigene Vorstellungen, Wünsche, Annahmen und Gewissheiten. Ob diese realistisch sind und mit der Außenwelt Gemeinsamkeiten haben, das kann man selbst dabei nicht überprüfen, weil man das, was im eigenen Kopf stattfindet, nur zu gerne als Wahrheit annimmt, was wiederum auch nichts Anderes ist als eine Bewertung, nämlich eine positive bezüglich der Wichtigkeit der eigenen Gedanken.

Diesen Kreislauf zu realisieren fällt den meisten Menschen sehr schwer, denn das Anerkennen der Realität und des Moments bedeutet auch immer, dass man sich seinen eigenen Fallstricken und Mustern stellen muss. Da das unter Umständen eine sehr schmerzhafte und unangenehme Erfahrung sein kann, scheint ein Vermeidungsverhalten attraktiver, der gewohnte und bekannte Weg muss mittels Bewertung nicht verlassen werden, die Welt wird solange kognitiv eingefärbt, bis die eigenen Erwartungen erfüllt werden. Kurzfristig führt das zur Entlastung vom Erregungsniveau, langfristig ist das aber keine adäquate Lösung.

Im Achtsamkeitstraining werden alle Regungen wahrgenommen. Es geht nicht darum, bestimmte Emotionen, meist gewollte, wie Freude und Aufregung, gezielt zu fördern und im Gegensatz dazu alle als schlecht bewerteten Emotionen und Eigenschaften weg zu meditieren. Wer sich unter Achtsamkeit einen Kreis entrückter und seliger Menschen vorstellt, liegt falsch. Achtsame Menschen nehmen alles wahr und leben auch alles, durchaus auch Wut, Hass und Trauer. Positives Denken oder Ablenken von unliebsamen Gefühlen ist nicht das Geschäft des MBSR.

Welche Auswirkungen hat das Achtsamkeitstraining?

Menschen, die das Achtsamkeitstraining praktizieren, berichten davon, dass sie eine erhöhte Entspannungsfähigkeit erfahren haben, was physiologisch mit einem gesunkenen Erregungsniveau korreliert. Dies wiederum zieht die Fähigkeit nach sich, in Situationen, die individuell Stress erzeugen, mehr bei sich zu bleiben und diese besser bewältigen zu können. Ob es sich hierbei um Beziehungsstreitigkeiten oder die Furcht vor einem entgegenkommenden Hund handelt, ist erstmal unwichtig. Wer achtsam ist, hat zwar Gefühle, ist sie aber nicht. Vor diesem Hintergrund registriert man zwar die Dynamik hoch erregter Situationen, muss sich aber nicht von diesen mitreißen lassen und über das Mitmachen ins manchmal kopflose Handeln flüchten. Das wiederum zieht eine Verminderung körperlicher und psychischer Symptome mit sich. Und zwar ganz unabhängig davon, ob der verursachende Strukturschaden, zum Beispiel bei einem Bandscheibenvorfall, weiterhin besteht.

Sowohl über die Achtsamkeitsübungen, als auch über die eben geschilderten Veränderungen erfahren die Praktizierenden mehr Selbstvertrauen, Selbstakzeptanz und auch mehr Selbstwirksamkeit, alles Faktoren, die einen das Leben mit mehr Gelassenheit erfahren lassen, man hat mehr Energie zur Verfügung und empfindet mehr Lebensfreude. Man begreift sich selbst mehr als Freund, als Jemanden, dem man unbedingt trauen kann und in dessen Gesellschaft man sich gern befindet. Interessanterweise bemerken das auch andere Menschen. Wer mit sich selbst Freundschaft geschlossen hat, wirkt auf diejenigen, die ab und zu mal über den eigenen Tellerrand schauen, oft sehr viel attraktiver und anziehender, in den Kontakten zwischen diesen Menschen potenziert sich die Lebensfreude.

Menschen, die sehr in ihren Mustern gefangen sind und dies nicht erkennen, empfinden in Achtsamkeit erfahrene Menschen dagegen eher als lästig, schwierig oder arrogant. Da man diesen meist nicht so einfach ungefragt eigene Projektionen und Probleme überstülpen kann, kann das auch zu dem Urteil führen, dass sich diese Menschen nicht für einen interessieren oder die geschilderten Schwierigkeiten nicht ernst nehmen. Dem ist aber nicht so, der achtsame Mensch nimmt das sehr wohl wahr, lässt sich aber meist nicht mitreißen, stimmt also nicht in die Schimpfkanonade über die Nachbarn, die Lehrer der Kinder, den Chef und die ganze Welt ein. Was viel Kraft spart.

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