Ambulante Psychotherapie bei Sucht – es geht auch ohne Abstinenz

Künftig wird eine ambulante Psychotherapie bei Süchten auch ohne Abstinenz möglich sein. Ein Fortschritt für Abhängige von Alkohol, Drogen und Medikamenten

Als Ergebnis einer Tagung des Fachverbandes Sucht und der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) im Jahr 2008 zum Thema „Psychotherapie und Suchtbehandlung“ bat die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung Sabine Bätzing den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), die Richtlinien für den Zugang zur ambulanten Psychotherapie bei Abhängigkeiten von Alkohol, Drogen oder Medikamenten zu überprüfen. Am 14. April 2011 veröffentlichte der G-BA seinen Beschluss, nach der in Ausnahmefällen nun eine ambulante Psychotherapie auch dann möglich ist, wenn noch keine Abstinenz vom Suchtmittel besteht.

Regelung zur ambulanten Psychotherapie bei stoffgebundenen Süchten

Bislang galt die Regelung, dass Menschen mit süchtigem Gebrauch von Alkohol, Drogen und Medikamenten nur dann eine ambulante Psychotherapie auf Kassenkosten beantragen durften, wenn sie zuvor dem Suchtmittel entsagten und es schafften, Abstinenz einzuhalten. Nun ist es mit den Süchten so eine Sache. In der Regel gibt es einen Grund für den Suchtmittelgebrauch und es gilt in Therapiekreisen der Grundsatz, dass eine Auseinandersetzung mit belastenden Themen nur schwer sinnvoll möglich ist, wenn der Betreffende mit dem Suchtmittel eine Möglichkeit hat und benutzt, sich den Unbequemlichkeiten einer Psychotherapie zu entziehen. Daher die Regelung, zunächst vom Süchtigen zu verlangen, dem Suchtmittel zu entsagen, zum Beispiel mit einer stationären Entgiftungsbehandlung, bevor es daran geht zu erarbeiten, was die Gründe für die Sucht sind und wie man mit den Auslösern in Zukunft sinnvoller umgeht.

Der Teufel steckt hierbei im Detail. Denn zu erwarten, dass die Betroffenen erst eine erprobte „Hilfe“ aufgeben, um dann neues Verhalten zu erlernen, was die „Hilfe“ überflüssig macht, ist nicht sehr realistisch. Könnten sie das ohne Probleme, wären sie nicht süchtig. Das zeigen auch die Versorgungszahlen. Obwohl pro Jahr zwischen 2,4 und 3,8 Prozent der Deutschen neu an Alkoholabhängigkeit oder Alkoholmissbrauch erkranken (Zahlen gelten für 2006), tauchen diese kaum in der ambulanten Versorgung auf. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern zum Beispiel verzeichnet Menschen mit alkoholbezogenen Störungen (F10 nach ICD-10) nur in einer Größenordnung von 0,5 bis einem Prozent. Ein Schluss liegt nahe: die Barrieren für einen Einstieg in eine Behandlung der Sucht sind zu hoch, daher wird kaum behandelt, mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen, das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft.

Was ändert sich mit dem Beschluss der G-BA in der ambulanten Psychotherapie bei Süchten?

Im Grunde bleibt die alte Regelung mit der Abstinenz als Voraussetzung für eine ambulante Psychotherapie bestehen, aber nun gibt es die Möglichkeit von Ausnahmen. Die wichtigste Neuerung ist, dass nun der Missbrauch von Drogen, Alkohol und Medikamenten überhaupt eine Indikation für eine ambulante Psychotherapie darstellt. Die Bedingung ist aber, dass der Patient bereits Schritte unternommen haben muss, um eine Suchtmittelfreiheit zeitnah herbeizuführen. Ist diese bis zum Ende der zehnten Behandlungssitzung erreicht, ist eine ambulante Psychotherapie auf Kassenkosten erlaubt. Bei einem Rückfall in die Sucht kann die Therapie allerdings nur fortgesetzt werden, wenn unverzüglich geeignete Maßnahmen zur erneuten Abstinenz ergriffen werden.

Wer profitiert von der neuen Richtlinien zur Psychotherapie bei stoffgebundenen Süchten?

Positiv an der neuen Regelung ist, dass Psychotherapie jetzt nicht nur zur Behandlung einer Sucht, sondern auch als Weg zur Motivation, dem Suchtmittel zu entsagen, genutzt werden kann. Es ist davon auszugehen, dass sich bei niedrigeren Hürden mehr Leute entschließen werden, überhaupt zu versuchen, abstinent zu werden oder den Konsum ihrer Drogen einzuschränken. Die Bundespsychotherapeutenkammer geht davon aus, dass das besonders bei Alkoholikern nach einem Rückfall hilfreich ist, denn diese brauchen nicht immer unbedingt erst eine stationäre Entgiftungsbehandlung, um einer entwöhnenden Therapie zugänglich zu sein.

Die Rückfallquote bei Alkohol ist hoch und mit der neuen Richtlinie verbessern sich die Behandlungsmöglichkeiten diesbezüglich deutlich. Die BPtK bewertet auch positiv, dass der G-BA das Indikationsspektrum um den schädlichen Gebrauch von psychotropen Substanzen erweitert hat, so dass nun auch der Konsum von Suchtmitteln außerhalb der Volksdroge Alkohol möglich wird; gemeint sind hier zum Beispiel die sozial oft wenig auffälligen Abhängigen von Medikamenten. Kritik kommt von der BPtK bezüglich des Nachweises der Abstinenz, der von den Psychotherapiewilligen mittels Laborparametern erbracht werden muss – ein Verfahren, dessen Nutzen umstritten ist und zudem weitere Kosten verursacht.

Und ab wann gilt die neue Richtlinie?

Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium aller Leistungserbringer im deutschen Gesundheitssystem. Mit den von ihm beschlossenen Richtlinien bestimmt er den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit ihren ungefähr 70 Millionen Versicherten. Die Richtlinien haben einen untergesetzlichen Charakter und sind für alle Teilnehmer der GKV bindend. Der Beschluss über die ambulante Psychotherapie bei Süchten wird nun dem Bundesministerium für Gesundheit zur Prüfung vorgelegt, nach erfolgter Nichtbeanstandung wird er im Bundesanzeiger bekannt gegeben und tritt damit in Kraft. Das kann allerdings noch einige Monate dauern.

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