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Neustart in der Lebensmitte – Mit Mut und Erfahrung klappt die zweite Karriere von Frauen

Warum Frauen in der Lebensmitte häufig noch einmal neu durchstarten. Sie sehnen sich nach Erfüllung und haben plötzlich keine Familienverpflichtungen mehr.

Die Kinder sind flügge geworden. Sie zu Judo-Training und Klavierstunde zu chauffieren, mit ihnen Vokabel – oder noch schlimmer: mathematische Gleichungen – zu pauken, ihre Bastelkunstwerke zu bewundern und für grasfleckfreie Jeans zu sorgen, füllt nicht mehr den Großteil des Tages. Was also anfangen mit der frei gewordenen Energie um die Lebensmitte, wo man als Frau schon einiges hinter sich hat, aber auch noch so viel vor sich haben könnte. Waren da nicht einmal geheime Träume, die Lust zu malen, Rosen zu züchten oder Parfums zu kreieren?

Keine Kinder? Später Neuanfang kein Thema? Von wegen. Hier kommt das Lebensmitteszenario Nummer 2: Alle Energie war die letzten Jahre damit gebunden, zur richtigen Zeit mit den richtigen Menschen und den richtigen Projekten seine Kompetenz nachhaltig zu beweisen, nachdem der Boss durch Wochenendeinsätze und endlose Trainings von der Karrieretauglichkeit überzeugt wurde. Womöglich hat sich der Einsatz gelohnt, womöglich steht der Porsche in der Garage, die Designerklamotten quillen aus dem Kasten und die Pediküre kommt praktischerweise ins Haus. Und womöglich fragt man sich genau jetzt, wann und wo denn das Talent zum Schreiben, die Fähigkeit, Leute für ein Thema zu begeistern und die Lust an der Natur gelebt werden könnte.

Neue Zeitqualität

20 Jahre lang hat Ursula Polster 70 bis 80 Stunden in der Woche gearbeitet, zuletzt in ihrem erfolgreichen Wiener Designmöbelgeschäft Silenzio. Mit 50 aber, so nahm sie sich vor, sollte eine andere Zeitqualität Einzug halten. „Eines Abends bin ich in unserem Häuschen am See gesessen, es war ein traumhafter Abend und mir ist bewusst geworden, was das hier für eine Lebensqualität ist. Ab einem gewissen Alter vergeht die Zeit so schnell, sodass man Dinge auch mal mehr genießen möchte wie etwa Blumen nicht nur anzupflanzen, sondern sie auch wachsen zu sehen“, sagt die erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie beschloss also, sich in Zukunft mehr Zeit für sich selbst, ihren Mann und ihre Hunde zu nehmen, und ihr geliebtes Geschäft zu verkaufen. Ganz so einfach war es aber nun doch nicht. „Es hat gebraucht, um mich von meinem „Baby“ lösen zu können“, sagt Ursula Polster, die sich aber nach einigen Verzögerungen nun doch ihren neuen Traum erfüllt hat. Im November hat sie ihren Wohnsalon eröffnet. Nicht mehr hektische Betriebsamkeit, sondern gemütliches Netzwerken am offenen Kamin stehen dabei im Vordergrund.

Sieg der Leidenschaft

„Gegen Leidenschaft ist kein Kraut gewachsen“, sagt die ehemalige Urologin Andrea Scholdan, 49 Jahre, die heute in ihrem Wiener Lokal Suppito in der Küche steht und Suppen nach der traditionellen chinesischen Medizin kocht, nachdem die Umstellung auf diese Ernährung sie selbst von einer jahrzehntelangen körperlichen Leidensgeschichte befreit hat. Durch diverse Praktika in Lokalen hat sie die gastronomische Realität kennengelernt, nichts aber hat sie abgeschreckt, sie „musste“ dieses Lokal aufmachen. „Ich habe versucht, mir mit Logik Einhalt zu gebieten, aber meine Leidenschaft für die Sache hat einfach nicht nachgelassen. Ich habe sie bis in die Haarwurzeln gespürt, es war wie Verliebtsein. Der Glaube an das Produkt hat mich beflügelt, ständig waren aus dem Nichts zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute da, die geholfen haben.

Neues Einkommen

Mit dem unbändigen Drang, endlich das Eigene zu leben, setzen sich Frauen in der Lebensmitte auch gelegentlich über Unkenrufe hinweg. Ihnen wird mitunter Waghalsigkeit oder schlicht Verrücktheit vorgeworfen, wenn sie ihr gutes Gehalt und ihren imageträchtigen Job gegen etwas ganz Neues eintauschen. In dem Alter sind Frauen aber häufig stark genug, um ängstliche Einwände wegzustecken. Diana Voigt etwa verkaufte mit 45 Jahren ihre literarische Agentur und machte sich als Ökopsychologin und Tiefenökologin selbstständig. „Meine Arbeit mit der Natur und ihrer Seele ist eine seelische, politische und spirituelle Bewusstseinsarbeit. Da muss man über seinen eigenen Egotellerrand hinausschauen können und damit über das, was man herkömmlich unter Karriere versteht: sich beweisen, Geld verdienen und Anerkennung bekommen. Diese Art von Karriere habe ich gehabt. Ab etwa 40 Jahren begreift man aber, dass es wichtigere Dinge gibt, die über die eigenen Interessen hinausgehen. Ich wäre also für diese Art von Arbeit früher gar nicht geeignet gewesen“, erklärt sie ihren Schritt zu einem Neuanfang in reifen Jahren.

Mit dieser Erklärung bestätigt sie die Forschungen der Schweizer Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello: „Wer auf dem egozentrischen Trip ist, der kriegt nun zunehmend Schwierigkeiten. Denn eine Entwicklunsaufgabe der zweiten Lebenshälfte ist es, nicht mehr nur auf sich zu fokussieren, sondern zu sich selber zu finden, indem man für die Gesellschaft etwas investiert, indem man sich für andere öffnet. Ab 40 beschäftigt die Frage: Was hinterlasse ich dieser Gesellschaft? Kinder, Wissen? Eröffne ich der nachfolgenden Generation Möglichkeiten? Da die durchschnittliche Lebenserwartung vor 100 Jahren noch bei 48 Jahren lag, wird klar, dass ein Neuanfang um die Lebensmitte bis vor kurzem noch gar kein Thema sein konnte, er wäre sich zeitlich schlicht nicht ausgegangen. Heute aber ist sie „ein biografischer Übergang wie die Pubertät, bei der klar wird, dass man sich von alten Rollen lösen und neue übernehmen muss“, so die Psychologin in ihrem Buch „In der Lebensmitte“.