Psychische Erkrankungen sind in Europa ein Massenphänomen

In Europa ist mehr als jeder Dritte von psychischen Erkrankungen betroffen, dazu kommen neurologische Krankheiten – eine Herausforderung.

Das Gehirn ist das komplexeste Organ des Menschen, Fehlfunktionen oder Erkrankungen treten dort natürlich wie auch im restlichen Körper auf. Die aktuellen Fallzahlen für psychische Krankheiten und andere Erkrankungen des Gehirns in Europa sind als Ergebnis einer Studie am 5. September 2016 im European Neuropsychopharmacology veröffentlicht worden. Demnach leiden jährlich 38,2 Prozent aller Einwohner in 30 europäischen Staaten unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung, das sind 164,8 Millionen Menschen. Hinzu kommen weitere Millionen von Europäern, die an neurologischen Erkrankungen leiden, Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose wurden in der Studie abgefragt. Diese Zahlen werden von den untersuchenden Forschern um den Psychologen Prof. Hans-Ulrich Wittchen von der Technischen Universität Dresden dahingehend interpretiert, dass die Behandlung von psychischen und neurologischen Erkrankungen die größte gesundheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist.

Studie Size and Burden of Mental Disorders in Europe bringt nach 2010 zum zweiten Mal Erkenntnisse über Erkrankungen des Gehirns

Die Daten der aktuellen Studie wurden über einen Zeitraum von drei Jahren in allen 27 EU-Staaten, der Schweiz, Island und Norwegen erhoben, die Gesamteinwohnerzahl dieser Länder beträgt 514 Millionen Menschen, mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder wurden erfasst. Diese Studie bildet weltweit das erste Mal ein realistisches Bild zur Häufigkeit der Störungen des Gehirns in allen europäischen Ländern und Europa als Ganzem ab. Im Jahr 2010 hatte die gleiche Forschergruppe das erste Mal versucht, die Prävalenz von mentalen Erkrankungen abzuschätzen und diese bei 27 Prozent festgelegt. Nach der jetzigen zweiten Studie gibt es keine belastbaren Hinweise auf eine Zunahme oder Abnahme dieser Krankheiten, die aktuellen Zahlen sind nur deshalb höher, weil in der jetzigen Untersuchung zusätzliche Erkrankungen mit hohen Fallzahlen berücksichtigt wurden, zum Beispiel Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen und Schlafstörungen. Dass subjektiv trotzdem ein Anstieg besonders bei psychischen Erkrankungen wahrgenommen wird, liegt nach Ansicht der Wissenschaftler am progressiveren Verhalten der Betroffenen, wenn es um Therapie geht. Bei dementiellen Erkrankungen gab es einen objektiven Anstieg der Fallzahlen, was von den Untersuchern auf die parallel gestiegene Lebenserwartung zurückgeführt wird.

Leider hat sich im Vergleich zu 2010 auch an den extrem niedrigen Behandlungsraten keine Veränderung ergeben, nach wie vor erhält höchstens ein Drittel der Betroffenen eine angemessene, zweckdienliche und fachlich fundierte Therapie. Diese beginnt zudem in der Regel erst Jahre nach Krankheitsbeginn, Chronifizierungen und in der Zwischenzeit produziertes Leid sind damit nicht mehr erreichbar.

Psychische Erkrankungen treffen mehr als jeden dritten Europäer in allen Altersgruppen

In Europa leiden jährlich 164,8 Millionen Menschen an einer klinisch bedeutsamen psychischen Krankheit, dies zieht sich durch alle Altersstufen, selbst Kinder und junge Erwachsene sind in gleichem Maße betroffen. Die meisten Erkrankten gibt es mit 14,0 Prozent von 514 Millionen Menschen bei den Angststörungen, es folgen mit 7.0 Prozent die Schlafstörungen, unipolare Depressionen mit 6,9 Prozent und psychosomatische Erkrankungen mit 6,3 Prozent. Abhängigkeiten von Alkohol und Drogen liegen bei mehr als 4 Prozent vor und 5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen betroffen. Das Schlusslicht nehmen dementielle Erkrankungen ein, hier liegt die Erkrankungsrate bei Menschen zwischen 60 und 65 Jahren bei 1 Prozent und erhöht sich bis auf 30 Prozent bei den über 85-jährigen. Diese Zahlen unterscheiden sich nicht in Häufigkeit und Rangreihenfolge in allen untersuchten Ländern, einzig die Suchterkrankungen weisen länderspezifische Unterschiede auf.

Zusätzlich zu den hohen Fallzahlen von psychischen Erkrankungen treten ebenfalls noch zahlreiche neurologische Erkrankungen auf, in der vorliegenden Studie waren Millionen von Menschen von Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose betroffen.

Die gesellschaftliche Gesamtbelastung von psychischen und neurologischen Erkrankungen

In der aktuellen Untersuchung wurden zum ersten Mal zusätzlich die disability-adjusted life years (DALYs) bestimmt, also die Anzahl der Lebensjahre, die durch psychische und neurologische Erkrankungen, die eventuell nachfolgenden Behinderungen und einen frühzeitigen Tod verloren gehen. Aus diesem Blickwinkel sind die vier belastendsten Erkrankungen die Depression, gefolgt von Demenz, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall. Allein diese Krankheiten machen zusammen 26,6 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtbelastung in der Europäischen Union aus. Damit wären diese Hirnkrankheiten die häufigsten Erkrankungen, noch vor Krebs und Herzerkrankungen. Diese Erkenntnisse sollten auch in der Kliniklandschaft Beachtung finden, denn momentan gibt es noch bedeutend mehr Kliniken für Erkrankungen des Herzens und Krebs als für psychische Leiden.

Was führt zu derart hohen Fallzahlen an psychischen Erkrankungen und zur unzureichenden Behandlung?

Die Forschergruppe um Wittchen macht drei Gründe aus, warum die Fallzahlen so hoch sind und sich trotz eines Zeitraumes von sechs Jahren zwischen den beiden Studien keine grundlegend positive Veränderung verzeichnen lässt. Die Aufspaltung der Disziplinen, die in Forschung und Praxis der psychischen Erkrankungen derzeit anzutreffen ist, bringt unterschiedliche Konzepte hervor, die von den beteiligten Berufsgruppen (Psychiater, Neurologen, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten) ebenso unterschiedlich umgesetzt werden. Es gibt zudem gesellschaftlich und politisch die Tendenz, psychische und neurologische Erkrankungen zu stigmatisieren, was natürlich auch die Betroffenen dazu bringt, mit ihren Problemen unentdeckt zu bleiben, somit werden solche Phänomene von der Masse nur als Randerscheinung wahrgenommen. Der dritte Fakt ist nach wie vor das immense Unwissen in der Bevölkerung und auch in der Gesundheitspolitik, wenn es um die Differenzierung der untersuchten Erkrankungen, deren Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und den hilfreichen Umgang im Alltag damit, geht.

Psychische Erkrankungen sind keine Einzelschicksale – diese Erkenntnis muss in der Gesellschaft verankert werden

Um die Behandlung von psychischen Erkrankungen und deren Folgen gesundheitspolitisch sinnvoll anzugehen, braucht es nach Ansicht von Prof. Hans-Ulrich Wittchen zwei Dinge. Das im Moment bestehende immense Ausmaß an Unter-, Fehl- und Mangelversorgung bei psychischen Erkrankungen muss beseitigt werden. Dazu muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass viele dieser Probleme schon früh im Leben beginnen und ohne Wartezeit behandelt werden müssen, nur so lassen sich Chronifizierung, Multimorbidität, Erwerbsunfähigkeit und häufige kostentreibende Klinikaufenthalte vermeiden.

Außerdem sollte der Komplexität der Beziehungen zwischen psychischen und neurologischen Erkrankungen Rechnung getragen werden, da isoliert auftretende Krankheiten aus einer der beiden Richtungen schnell komplex werden können und sekundäre Morbiditäten mit sich bringen können. Nur eine zweckmäßige und an der Dynamik der sich hervorbringenden Erkrankungen orientierte Prävention und Therapie ist sinnvoll, leidmindernd und kostensparend.

Um diese Ziele zu erreichen, braucht es eine Erhöhung der Budgets für Forschungen zu Ursachen, Prävention und Behandlung von psychischen und neurologischen Erkrankungen, die Behandlungsressourcen für psychische Krankheiten müssen ausgebaut werden und die beteiligten Behandler müssen ihre Zusammenarbeit verbessern, das wären die ersten Schritte, um die gesundheitspolitische Herausforderung durch psychische Erkrankungen meistern zu können.

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