Liebe auf Distanz

Immer häufiger werden Beziehungen auf Distanz geführt. Oft beklagen sich die Partner darüber. Aber es gibt auch Vorteile. Und eine Tradition, die aus dem Mitelalter kommt.

Gelegenheit macht Liebe. In den Kreisen der globalisierten, nicht nur akademischen, Reiseelite sind in den letzten Jahrzehnten die Möglichkeiten zur Liebe auf Distanz stark gestiegen. Um wie viel interessanter ist es doch, einer brasilianischen Schönheit in die Augen zu blicken als der zuhause wartenden Ehefrau, die sich dann auch noch darüber beklagt, dass sie nicht rauskommt. Um wie viel aufregender ist es doch, mit dem knackigen kanadischen Ökologen, dessen von Wind und Wetter gegerbte Haut ungeheuer erotisch ist, zu flirten, als mit dem blassen Büroangestellten von nebenan.

Sicher aber haben Fernbeziehungen auch wegen des ihnen eigenen Potentials zur romantischen Liebe Konjunktur.

Das Paradox der Fernbeziehung: Mehr Nähe

Die Fernbeziehung ermöglicht viel mehr Nähe, zumindest viel mehr Sich-Nahe-Fühlen, weil die Schwierigkeiten, die man überwinden muss, um wieder zusammen zu sein, so groß sind. Und weil man sich wirklich Zeit nimmt für den anderen. Da sind die täglichen E-Mails, die man noch schnell vorm Zubett-Gehen schreibt, während der Geliebte auf der anderen Seite der Welt gerade aufsteht. So zärtlich waren die Telefonate noch nie, so interessant der E-Mail-Austausch auch nicht. Empfehlenswert sind Männer, die, was das Tippen angeht, gut geschult sind. Sie reagieren auf jeden Zwischen-E-Mail-Ton und rufen, wenn sie merken, dass die Sehnsucht jetzt doch bald mal in ungeduldige Wut umzuschlagen droht, gleich an und besänftigen mit einer durch das Telefonrauschen wunderbar sinnlich gewordenen Stimme.

Die passende Literatur: Salz auf meiner Haut von Benoite Groult

Für alle, die über Erdteile oder soziale Schichtenbeschränkungen hinweg lieben, sei „Salz auf meiner Haut“ von Benoîte Groult empfohlen, denn auch die beiden wissen genau, dass sie nie wirklich zueinander finden können, aber auf ewig – bis dass der Tod sie scheidet – zusammen gehören. Auf irgendeine Weise. Und sei es durch den Kitt der Illusion. Die Fernliebenden verhalten sich nach dem Muster der zwei Königskinder, die einander so lieb haben, jedoch durch das tiefe Wasser, das zwischen ihnen Wellen schlägt, nicht zueinander kommen können. Aber das Band, das die beiden zusammen hält, ist stark durch die wunderbare Vorstellung, die man sich von dem anderen macht.

Konstitutives Moment der Liebe: die Sehnsucht

Was die Ehe oft wegen zunehmender Routine und allzu genauer Kenntnis des Partners erledigt hat, bleibt den Fernbeziehungspaaren über lange Zeit erhalten. Wenn sie sich zwischendurch immer wieder mal treffen, denn Nahrung braucht die Sehnsucht doch. Das Schnarchgeräusch oder der Anblick von Zahnpasta-Resten werden dann noch als süße Bestätigung, dass der geliebte Mensch am Leben ist, gedeutet. Die Sehnsucht ist ein konstitutives Moment solcher Beziehungen, und was ist schöner, als sich lange Zeit etwas zu wünschen und es dann kurzzeitig wirklich erleben zu dürfen? Das ist immer wie Weihnachten.

Intensive gemeinsame Zeit: die Treffen

Ein Glanz liegt den Partnern immer dann auf dem Gesicht, wenn sie sich am Flughafen nach drei Monaten neu in die Arme nehmen dürfen, er wird abgelöst von der intensiven Trauer beim Abschied, garniert von Ich-liebe-dich-immer-und-ewig-Schwüren. Die kurze gemeinsame Zeit wird nachhaltiger erlebt als zehn Jahre mit einem Partner, der allabendlich von der Arbeit geschafft nachhause kommt, seine Schuhe auszieht und sich aufs Sofa fläzt, um nur noch dem Fernseher oder dem DVD-Player seine Aufmerksamkeit zu gönnen. So ist man dem Fernpartner gefühlt näher, und ihm oftmals inniger verbunden als jenen, die ständig vorhanden und griffbereit sind.

Revival des mittelalterlichen Liebesideals

Die Liebe auf Distanz ist ein Revival des mittelalterlichen Liebesideals, nur ein bisschen auf emanzipiert getrimmt. Nicht nur die „hehre Frowe“ (die hohe Frau), sondern auch der Mann wird idealisiert und in höchsten Tönen in gegenseitig sich steigernder verballyrischer Liebesprosa gepriesen. SMS, E-Mail, Chats beleben diese alte Tradition ganz neu.

Irgendwann die Damoklesfrage: Zu dir oder zu mir?

Bis irgendwann die Frage auftaucht, die wie ein Damoklesschwert seit Beginn dieser Verbindung über beiden hängt: Gibt es ein gemeinsames Leben nach der Illusion? Spätestens dann reibt sich das Ideal mit der Realität, mit den tatsächlichen Wurzeln des Einen und der Anderen in ihrem jeweiligen Land, das sie vielleicht beide nicht verlassen wollen.

Möglicherweise geht es dann weiter wie bei Benoîte Groult, dass man sich einigt auf ein bis zwei Wochen im Jahr, geheim gehalten vor den beständigen Partnern im eigenen Haushalt, aber immer noch brauchbar dafür, das sehnende Herz bis ins hohe Alter mit innigstem Gefühl zu nähren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.