Medizin-Doktortitel auch fachfremd

Dissertation für Ingenieure, Geistes-, Gesellschaftswissenschaftler. An den medizinischen Fakultäten einiger Hochschulen können auch Akademiker promovieren, die vorher etwas anderes studiert haben.

Für die Theologin Sabine Schleiermacher reichte das Magisterexamen der Universität Heidelberg nicht aus. Doch das Thema für ihre geplante Doktorarbeit sprengte die Grenzen des Fachbereiches: Sie wollte herausfinden, wie es dazu kam, dass sich während des „Dritten Reiches“ die protestantische Sozialfürsorge vor den Karren einer menschenverachtenden „Rassenhygiene“ spannen ließ und welche Rolle der Mediziner Hans Harmsen dabei spielte. Einen Doktorvater fand sie schließlich an der Freien Universität Berlin – allerdings nicht bei Theologen, sondern im Fachbereich Humanmedizin. Dort war sie die erste Nichtmedizinerin, die einen Doktortitel erhielt. Sabine Schleiermacher kann sich nun „Dr.rer.medic.“ nennen: „rerum medicarum“ bedeutet „medizinische Dinge“.

Unis haben Promotionsordnungen geöffnet

Zugute kam Sabine Schleiermacher eine kurz zuvor geänderte Promotionsordung der Universtität: Wer einen Hochschulabschluss aus dem Bereich der Natur- oder Ingenieurwissenschaften, der Rechtswissenschaften oder der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vorweisen kann, darf an der FU seit einigen Jahren mit einem Thema aus der Medizin oder einem Grenzgebiet promovieren. Andere Universitäten haben ähnliche Promotionsordnungen eingeführt.

Vielzahl an Doktor-Titeln

Die Vielzahl der Doktor-Titel ist verwirrend: Den „Dr.rer. medic.“ gibt es an den Universitäten Münster und Essen, an der Uni Frankfurt den „Dr. rer. med.“, den „Dr. rer.biol.hom“ in Gießen, den „Dr. biol. hum.“ in Ulm, den „Dr. rer.biol. hum.“ in München und Hannover, den „Dr.sc.hum.“ in Heidelberg.

Vorläufer ist der Anfang des siebziger Jahre an der Universität Marburg eingeführt „Dr.rer.physiol.“ (den mittlerweile auch die Uni Mainz vergibt), der allerdings ein Ergänzungsstudium voraussetzt. Einige andere Universitäten verlangen Praxisnachweise: Zwei bis drei Jahre durch einen Professor angeleitete Tätigkeit in einer wissenschaftlichen oder klinischen Einrichtung der Medizinischen Fakultät werden meist vorausgesetzt. Die Berliner Promotionsordnungen sind dabei nicht so streng, richten sich aber dennoch an Berufspraktiker. Professor Rolf Winau, selbst doppelt promoviert und zur Zeit der Einführung der Dr.rer.medics in Berlin Direktor des FU-Instituts für Geschichte und Medizin, hat an der FU die neue Promotionsordnung auf den Weg gebracht: „Dieser Doktortitel ist für Akademiker gedacht, die sich durch ihre berufliche Tätigkeit in die Medizin eingearbeitet haben, beispielsweise Ingenieure, die an der Entwicklung von Kunstherzen mitarbeiten.“ An ihren „Heimatfachbereich“, so Winaus Erfahrung, könnten sich die WIssenschaftler mit ihrem Promotionswunsch nur selten wenden: „Die Fragestellungen sind so medizinisch, dass die Professoren dort überfordert sind.“ Doch nicht nur das: Oft fehle auch das Interesse an medizinischen Fragestellungen. Vom traditionellen Kanon abweichende Themen würden nicht gerne gesehen, manche Professoren scheuten die Zusammenarbeit mit den „fachfremden“ Medizinern.

Eher schwerer denn leichter

Winau musste denn auch Überzeugungsarbeit leisten, Bedenken zerstreuen und die Qualität der DIssertation betonen. „Wir wollen keinen Ersatztitel schaffen und Promotionswillige abwerben“, sagt Winau. „Eine leichtere Promotion als in anderen Fächern erwartet die Doktoranden bei uns nicht.“ Eher das Gegenteil: Wer den „Dr. rer medic“ haben möchte, muss vor Beginn seiner Forschungsarbeiten die Zulassung beantragen, wobei ein Ausschuss das Vorhaben auch ablehnen kann.

Vorteile des neuen Doktor-Titels

Die Vorteild des vergleichsweise jungen Doktor-Titels können Akademiker nutzen, die ihre berufliche Zukunft in WIssenschaft und Forschung sehen. „Im Hochschulbetrieb ist eine Promotion unerlässlich“, sagt Winau. „Ein Dr. rer. medic. signalisiert immer Interdisziplinarität und die Beschäftigung mit weitergehenden Fragestellungen“, betont Sabine Schleichermacher die Qualitäten des Medizin-Doktors für Nichtmediziner. Für eine Kariere in der Wirtschaft erscheint der ungewöhnliche Medizin-Doktortitel allerdings eher unwichtig. Dennoch: An der Freien Universität war nach seiner Einführung das Interesse an dem „Dr. rer. medic“ spürbar: Nach Sabine Schleiermacher hatten sich ein Chemiker, ein Biologe und ein Mathematiker zum Promotionsverfahren angemeldet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.