Antonovsky: Das Modell der Salutogenese

Was macht Menschen krank? Falsche Frage, so die Salutogenese. Wichtiger: Was hält gesund? Prävention tut Not: In Unternehmen, in Schule und Ausbildung.

Jerusalem, Juni 1968. Während Ägypten sich mit dem Verlust des Sinais nicht zufrieden geben will und einen Abnutzungskrieg gegen Israel beginnt, startet Aaron Antonovsky sein neuestes Forschungsprojekt. Der amerikanische Medizinsoziologe und Stressforscher, 1960 nach Israel ausgewandert, will herausfinden, wie israelische Frauen die Menopause verarbeiten. Was den Krieg betrifft, so geht dieser 1970 ohne große Ergebnisse und historische Konsequenzen zu Ende. Doch was Antonovsky in diesem Jahr in Jerusalem entdeckt, das hat bleibende Folgen – für unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit und den gesamten Bereich der Prävention.

Gesundheit und Konzentrationslager

Bei seinen Untersuchungen fällt Antonovsky nämlich auf, dass eine Gruppe von Frauen die Problematik des klimakterischen Übergangs besonders gut meistert. Es handelt sich dabei um Frauen, die den Holocaust trotz Konzentrationslager überlebt haben. Antonovsky untersucht diese Frauen genauer und stellt fest, dass sie in verstärktem Maße über etwas verfügen, was er „Kohärenzgefühl“ nennt und worunter er folgendes versteht:

  1. Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen.
  2. Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können.
  3. Der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat.

Für Antonovsky beginnt damit, wie er selbst sagt, eine „Kehrtwendung“. Anstatt zu fragen, was Menschen krank macht, fragt er: Was hält Menschen gesund? Damit stellt der israelische Forscher die Frage nach der menschlichen Gesundheit sozusagen vom Kopf auf die Füße. Ergänzend zur traditionellen Medizin, die sich mit der Pathogenese beschäftigt (wie kommen Leid und Krankheit zustande?) entwickelt Antonovsky das Konzept der Salutogenese: eine Antwort auf die Fragen, wie Gesundheit zustande kommt und welche gesundheitsproduzierenden Faktoren es gibt.

Alternative Medizin: Wie wird man ein guter Schwimmer?

Den Unterschied zwischen Pathogenese und Salutogenese beschreibt Antonovsky anhand der Metapher eines Flusses: Die Pathogenese gleicht demnach dem Versuch, Ertrinkende mit hohem Aufwand aus einem reißenden Fluss zu retten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, warum sie in den Fluss gefallen sind und warum sie nicht schwimmen können. Die Salutogenese hingegen betrachtet den Fluss als Strom des Lebens. Antonovsky: „Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, dass ein Großteil des Flusses sowohl im wörtlichen wie auch im herkömmlichen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluss, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine Arbeit ist der Auseinandersetzung mit folgender Frage gewidmet: Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluss befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer?“ (zit. nach Gregor Raddatz, Bernd Perschers: Burnoutprävention in der Pflegeausbildung, 2007, S. 132)

Zur Gesundheit gehören Selbstverwirklichung und Sinnfindung

Basierend auf Antonovkys Gesundheitsmodell entwickelte sich nach und nach ein modernes Gesundheitsverständnis. Anstelle des traditionellen biomedizinischen Konzeptes, das den Menschen im Wesentlichen nur als ein passives Objekt physikalischer Prozesse sieht, tritt eine systemische Betrachtungsweise. Der Begriff Gesundheit wird heute mehrdimensional verstanden: Körperliches und seelisches Wohlbefinden, aber auch Leistungsfähigkeit, Selbstverwirklichung und Sinnfindung gehören mit dazu. Außerdem hängt Gesundheit ab vom Verhältnis aus Belastungen einerseits und dem Vorhandensein von Ressourcen andererseits. Da Belastungen jedoch oft kaum vermieden werden können, gilt es – so das Credo modernen Gesundheitsmanagements – die Ressourcen des Einzelnen zu fördern und sein Gesundheitspotenzial zu entfalten.

So ändert sich mit dem neuen Verständnis von Gesundheit und Krankheit im Rahmen des salutogenetischen Konzeptes auch das Denken darüber, welche Möglichkeiten es gibt, die Gesundheit positiv zu beeinflussen. Man prägt den Begriff der „betrieblichen Gesundheitsförderung“ und konzentriert sich fortan nicht nur auf die Vermeidung von Krankheiten und Unfällen, sondern auch auf die Schaffung positiver Ressourcen, welche die Gesundheit fördern.

Modernes Gesundheitsmanagement: Salutogenese auf dem Vormarsch

Die Folgen: Der klassische Arbeits- und Gesundheitsschutz (staatlich, verpflichtend, zentralistisch, expertendominiert) verliert an Bedeutung. In den Vordergrund tritt die Vision einer umfassenden, präventiven Gesundheitsförderung, die sich nicht zuletzt durch die partnerschaftliche Einbeziehung der Mitarbeiter als Experten ihrer eigenen Gesundheit auszeichnet. Die Salutogenese als Modell der Stärkung des Kohärenzgefühls spielt jedoch nicht nur in den Unternehmen im Rahmen von „Corporate Mental Health eine wichtige Rolle.

Jugendliche mit Migrationshintergrund stärken, Chancengleichheit für Ausländerkinder

Nicht nur in den Unternehmen, sondern auch in den Bildungsinstitutionen spielt die Salutogenese zunehmend eine Rolle. So wird angehenden Pädagogen zum Beispiel heute in der Ausbildung vermittelt, dass es auf die Stärkung des Konhärenzgefühls ankommt – zum Beispiel bei der Förderung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus. Tenor: Natürlich muss die Bildungspolitik die richtigen Weichen stellen und die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen, um die Chancen von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus zu verbessern. Doch die Bildungsinstitutionen sind ebenfalls gefordert: in jedem Einzelfall. Durch Intervention beim Jugendlichen, seiner Familie und seinem Umfeld, lässt sich das Kohärenzgefühl des Schülers praktisch und nachweisbar fördern – und damit seine Integration in diese Gesellschaft.

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