Östliche und westliche Medizin

Die östliche und die westliche Medizin sind zwei Sichtweisen auf ein und dasselbe Phänomen: den menschlichen Körper.

Immer mehr Menschen wenden sich den sogenannten alternativen Heilmethoden zu. Fachärzte machen Zusatzausbildungen, um sich in Naturheilverfahren zu qualifizieren und eine Vielzahl an Heilpraktikern bietet Verfahren der Volksheilkunde sowie Therapien aus der östlichen Medizin zur Behandlung ihrer Patienten an. Die östliche Medizin wird in der Regel auf die chinesische Heilkunde reduziert, auch wenn in Japan, Indien und anderen östlichen Ländern weitere Heilmethoden und Krankheitsmodelle existieren.

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) beruht auf fünf großen „Säulen“: auf der Arzneimitteltherapie, auf der Akupunktur, der Akupressur, auf Bewegungsübungen und auf der Diätetik. Allen „Säulen“ liegt dasselbe Menschen- und Krankheitsmodell zugrunde. Erst ein tieferes Verständnis für das taoistisch geprägte Modell der Krankheits- und Gesundheitslehre ermöglicht es, die Therapien erfolgreich einzusetzen.

Klare Trennung zwischen Ost und West

Die TCM gehört in ein eigenständiges Welt- und Menschenbild. Darum sind alle Versuche erfolglos, die die TCM mithilfe anderer Modelle erklären wollen. Die östliche Medizin ist ein unabhängiges und in sich logisches System des Denkens und der praktischen Therapie. Dieses System wurde über 2000 Jahre erweitert und verfeinert, so dass sich ein sehr komplexes Krankheits- und Gesundheitsmodell entwickeln konnte. Die TCM ist fest in ihrem kulturellen, sozialen und historischen Kontext verankert. Darum hat sie eine eigene Auffassung von Körper, Geist, Krankheit und Gesundheit.

Die in der TCM verwendete Terminologie ist nicht mit der westlichen gleichzusetzen. Die chinesische Medizin beschreibt Krankheiten mit den Worten „Feuchtigkeit“, „Hitze“, „Wind“, „Leber-Feuer“ u.a. Die westliche Medizin kennt den Begriff der „Feuchtigkeit“ nicht, ist aber durchaus in der Lage, das, was in der TCM als „Feuchtigkeit der Milz“ bezeichnet wird, zu behandeln. Auch spricht die westliche Medizin nicht von „Feuer“, kann aber die Krankheit heilen, die in der TCM als „übermäßiges Feuer, das unkontrolliert in der Lunge wütet“ bezeichnet wird. Die chinesische Heilkunde kennt keine Pneumokokken als Auslöser für Lungenentzündungen, kann aber Lungenentzündungen heilen.

Die Verwendung unterschiedlicher Termini zeigt, dass es sich bei der westlichen und bei der östlichen Medizin um zwei unterschiedliche Wahrnehmungsweisen des gleichen Phänomens, nämlich des menschlichen Körpers, handelt. In diesen Wahrnehmungen zeigen sich Tradition, Kultur und Empfindungsvermögen zweier „Welten“. Beide sind in der Lage, den Körper zu heilen – jede auf ihre Weise.

Verschiedene Wahrnehmungen führen zu verschiedenen Strukturen

Anhand der verschiedenen Termini, die in den beiden medizinischen Systemen verwendet werden, zeigt sich, wie sehr sich die kulturellen Hintergründe voneinander unterscheiden. Die logische Struktur, die Gedankenverläufe des Arztes, die Kategorisierungen, die klinischen Einsichten und das kritische Urteil unterscheiden sich allesamt zwischen der östlichen und der westlichen Heilkunde.

Die verschiedenen logischen Strukturen haben den beiden Heilansätzen unterschiedliche Richtungen vorgegeben. Die westliche Medizin beschäftigt sich in erster Linie mit isolierbaren Krankheitskategorien und Krankheitsursachen, die sie gezielt herausgreift und versucht, zu verändern, zu kontrollieren oder zu eliminieren. Der westliche Arzt beginnt seine klinische Arbeit bei einem Symptom des Patienten. Von diesem ausgehend sucht er dann nach dem zugrunde liegenden Mechanismus, um eine präzise Ursache für eine spezielle Krankheit ausfindig zu machen. Die Krankheit kann zwar verschiedene Teile des Körpers betreffen, stellt aber ein ziemlich klar definiertes und in sich geschlossenes Phänomen dar. Eine präzise Diagnose ermöglicht eine exakte und quantifizierbare Beschreibung eines abgegrenzten Bereichs. Der Arzt geht also analytisch vor.

In der chinesischen Heilkunde richtet der Arzt seine Aufmerksamkeit auf das gesamte physiologische und psychologische Individuum. Er sammelt alle relevanten Informationen, einschließlich genereller körperlicher und psychischer Merkmale des Patienten, um diese Informationen zu einem Muster zusammenzusetzen. Dieses Muster stellt ein „Muster der Disharmonie“ dar, welches Aufschluss über das „Ungleichgewicht“ im Patientenkörper gibt. Bei der chinesischen Diagnose wird nicht zu einer speziellen und isolierten Krankheit hingeführt, sondern es wird eine umfassende, therapeutisch nutzbare Beschreibung der ganzen Person erstellt. Die Frage nach Ursache und Wirkung ist nur zweitrangig. Die Wahrnehmung und Deutung des Gesamtmusters ist viel entscheidender. Es geht in der TCM um das Erkennen der Beziehungen zwischen den einzelnen Geschehnissen im Körper. Die dahinterstehende Logik ist eine synthetische Logik. Das jeweilige Muster der Disharmonie stellt den Rahmen der Behandlung dar.

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