Warum ist das Gehirn ein geschlossenes System?

Ist das Gehirn in der Lage, die Umwelt zu erkennen oder konstruiert es sich die Umgebung im Blindflug? Eine doppelte Antwort.

Im letzten Jahrhundert gab es eine Wissenschaftstheorie, die sich Konstruktivismus nannte. Die Diskussion um den Konstruktivismus war heftig und kontrovers. Sie ist weitestgehend abgeklungen. In der Öffentlichkeit wird gar nicht mehr an sie erinnert. Dabei sind wichtige Vertreter, wie zum Beispiel Paul Watzlawick, immer noch bekannt. Ihre fundamentalen Einsichten sollten immer noch eine zentrale Stelle in der öffentlichen Diskussion einnehmen. Zu diesen Einsichten gehört, dass das Gehirn ein geschlossenes System ist.

Nervenimpulse

Was aber bedeutet, dass das Gehirn ein geschlossenes System ist? Zunächst nichts anderes, als dass das Gehirn mit grundlegenden Einheiten arbeitet, die in der Umwelt nicht vorkommen. Dies sind die Nervenimpulse. Nur im Nervensystem werden solche Impulse erzeugt und weiterverarbeitet. Wir können uns das sehr gut an einem optischen Reiz verdeutlichen. Ein solcher optischer Reiz ist ein physikalisches Phänomen. Dieses physikalische Phänomen trifft nun auf die Netzhaut im Auge, gibt dort seine Energie ab und wird in einen ersten Nervenreiz umgewandelt. Dieser Nervenreiz funktioniert nun ganz anders als ein Lichtstrahl.

Wie sich Systeme schließen

Es ist diese Formulierung „funktioniert nun ganz anders“, die auf die Geschlossenheit eines Systems hinweist. Das Gehirn verarbeitet keine physikalischen Phänomene wie die Lichtstrahlen, sondern biologische Phänomene, durch die es sich über die Sinneszellen anregen lässt. Man kann auch sagen, dass das Gehirn die Kausalität der physikalischen Welt „bricht“. Dies ist eine der wesentlichen Leistungen unseres Nervensystems. Dies ist, was man die Schließung eines Systems nennt.

Und wie sich Systeme öffnen

In seinen wildesten Zeiten behauptete der Konstruktivismus, wir hätten überhaupt keinen Zugang zur Welt und würden uns alles erfinden. Dieses Argument kann man schlecht nachvollziehen. Es gelingt doch jedem Menschen recht gut, sich zum Beispiel auf einen Stuhl zu setzen. Es mag ja sein, dass dieser Stuhl irgendwie auch sehr falsch wahrgenommen wird. Aber immerhin klappt es mit dem Hinsetzen meist: der Sitzende ist oftmals recht zufrieden. So ganz kann das nicht auf einer reinen Konstruktion innerhalb des Gehirnes beruhen. Irgendetwas muss zwischen Gehirn und Umwelt funktionieren, was dem Menschen seine Handlungsfähigkeit ermöglicht.

Reize kommen trotzdem von außen

Egal, was in einer Sinneszelle passiert: Sie muss von außen angeregt werden. Die Zellen auf der Netzhaut brauchen einen optischen Impuls, die Zellen im Ohr einen akustischen. Ebenso braucht die Haut eine Reizung, um taktile Reize zu erschaffen. Dies gilt zwar nicht in jedem Fall (es gibt Wahrnehmungsstörungen), aber weitestgehend. Und genau diesen Vorgang der Reizung konstruiert das Gehirn nicht. Was es schließlich daraus macht, ist natürlich eine andere Sache (vergleiche dazu auch Uexkülls Theoretische Biologie).

Die Gehirnstruktur

Das Gehirn hat sich, wie jedes Organ, evolutionär entwickelt. Dies heißt, dass es sich als günstig erwiesen hat, dass das Gehirn so strukturiert ist, wie wir es im Moment kennen. Günstig heißt hier keinesfalls: dass es Wahrheiten produziert. Es heißt noch nicht mal, dass es besonders gut das Überleben der menschlichen Rasse absichert. Es heißt nur, dass die Struktur hinreichend gut dafür ist, entweder Karibus zu jagen (wie beim Urzeitmenschen) oder Günter Grass zu lesen (was manchmal dem modernen Menschen einfällt). Darwins These vom Überleben des Angepasstesten muss leicht verschoben als ein Überleben des Hinreichend-Angepassten gelesen werden. Unser Gehirn liefert immer noch eine solche hinreichende Anpassung an die moderne Kultur. Das hat jedoch, wie gesagt, nichts mit Wahrheiten oder besonders großen evolutionären Vorteilen zu tun.

Strukturelle Kopplung

Gehirne verarbeiten nur Nervenimpulse. Doch die Struktur, in der dies geschieht, hat sich im Laufe der Jahrmillionen immer wieder mit der Umwelt abgeglichen und ungünstige Tendenzen ausgemerzt. Man nennt diese „Anpassung“ auch strukturelle Kopplung. Sie sorgt dafür, dass das Gehirn zwar geschlossen arbeitet, aber trotzdem den Kontakt zur Umwelt aufrecht erhält. Man sagt auch, dass das Gehirn ein geschlossen operierendes aber strukturell offenes System sei. Dies nennen die beiden chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francesco Varela auch „autopoietische Systeme“.

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