Warum wir uns Fremdschämen – Wie entsteht Fremdschämen?

Das Phänomen Fremdschämen. Warum treibt uns das peinliche Verhalten anderer Schamesröte ins Gesicht? Der Fremdscham auf der Spur.

Einer der DSDS-Casting-Kandidaten trifft vor laufender Kamera keinen Ton. Erst ist man noch fasziniert von so unerschütterlichem Selbstbewusstsein und einer derartigen Fehleinschätzung des eigenen Talents. Doch schon Sekunden später ist es nicht mehr auszuhalten, man möchte die Augen zukneifen und sich die Ohren zuhalten. Man muss einfach den Kanal wechseln, um sich Erleichterung zu verschaffen. Warum ist es uns peinlich, wenn andere peinlich sind?

Der Begriff „fremdschämen“

Neben „Abwrackprämie“ und „twittern“ findet sich auch der Begriff „fremdschämen“ erstmals 2009 in der 25. Auflage des Dudens.

Fremdschämen, das heißt, sich stellvertretend für andere zu schämen. Ein Verhalten, dass vermutlich so alt ist wie die Menschheit: Unsere Eltern schämten sich für uns, wenn wir uns bei einem Familientreffen total daneben benahmen. Wir schämten uns für unsere Eltern, wenn sie sich vor unseren Freunden von ihrer besonders spießigen und uncoolen Seite zeigten … Dass wir uns für die schämen, die uns nahestehen, ist noch nachvollziehbar, aber warum schämen wir uns auch für Wildfremde? Die Tatsache, dass inzwischen ein eigenes Wort dafür kreiert wurde, legt die Vermutung nahe, dass es einen gesteigerten Bedarf dafür gab. Bedarf, weil die Anlässe zum Fremdschämen gestiegen sind?

Tatsächlich sind die Möglichkeiten die eigenen (Un-)Fähigkeiten öffentlich zu präsentieren, rasant angestiegen: Das Internet garantiert jede Menge Zaungäste für jedwede peinliche Selbstdarstellung. Die Macher der Nachmittagstalkshows im Fernsehen sind offensichtlich sogar dankbar für Gäste, die Anlass zur Fremdscham geben. Die Zuschauerzahlen zeigen, dass dem Fremdschämen wohl bis zu einem gewissen Punkt auch eine Faszination des „Ich kann nicht weggucken – ich kann nicht hingucken“ anhaftet.

Der feine Grat zwischen lustig und peinlich

„Stromberg“-Regisseur Arne Feldhusen ließ seinen Hauptdarsteller Christoph Maria Herbst von einem Fettnäpfchen ins nächste tappen. John Cleese in „Fawlty Towers“, Woody Allen im „Stadtneurotiker“ und seinen anderen Filmen, Loriots „Nudel“ – erst lachen wir, dann winden wir uns schon vor Pein. Der Grat zwischen lustig, Fremdschämen und Mitleid ist schmal: Jemand, der seine verbleibenden Haare über die Halbglatze kämmt, jemand, der mit offenem Hosenreißverschluss einen Vortrag hält, jemand, der vor versammelter Mannschaft Unsinn redet … all das kann unangenehme Beklemmungen bei uns selbst hervorrufen. Warum? Weil eine Art Identifikation stattfindet.

Fremdschämen: wissenschaftliche Spurensuche

Inzwischen beschäftigt sich auch die Wissenschaft mit diesem Phänomen. An der Marburger Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie untersuchten Sören Krach und Frieder Paulus in der AG Brainimaging in der Hirnforschung das Fremdschämen. Sie befassten sich unter anderem mit der Frage, welche Gehirnareale dafür verantwortlich sind, dass wir uns für andere schämen.

Für die Fremdscham sind sogenannte Spiegelneuronen in unserem Gehirn verantwortlich. Diese Spiegelnervenzellen entdeckte Giacomo Rizzolatti 1995 in einem Tierversuch mit Affen. Wenn wir eine Aktion passiv betrachten, dann lösen diese Spiegelzellen die gleichen Reaktionen aus, wie wenn wir die Aktion aktiv gestalten würden. Wenn wir also jemanden beobachten, dann simulieren unsere Gehirnzellen wie wir uns selbst fühlen würden, wenn wir an der Stelle des Beobachteten wären. Damit ist es für die Fremdscham auch irrelevant, ob sich der Fettnäpfchentreter selbst schämt oder nicht.

Warum wir uns fremdschämen

Möglicherweise schämen sich Menschen, die sich gut einfühlen können, besonders viel fremd. Gerade dann, wenn die Grenzen zwischen den eigenen Gefühlen und denen anderer leicht verschwimmen wie beim Mitfühlen und Mitleiden, ist auch die Tendenz zum Mitschämen besonders groß. Damit ist Fremdscham also auch ein Zeichen für Empathie.

Emotionen haben generell etwas Ansteckendes. Wenn wir in eine gut gelaunte Runde kommen, steigt auch unsere Stimmung, wenn wir einen Menschen in tiefer Trauer beobachten, stimmt uns das selbst auch traurig. Auch bei der Scham findet diese „Ansteckung“ statt. Wir versetzen uns innerlich in die Lage des Blamierten.

Lenkt Fremdscham davon ab, sich für sich selbst zu schämen? Wohl eher nicht. Vielmehr kommt es häufig auch zu einer Kombination aus Fremd- und Eigenscham: Wir schämen uns auch, wenn wir Teil einer Gruppe sind, mit denen man uns identifiziert. So können wir uns z.B. im Urlaub für andere Deutsche schämen, die sich daneben benehmen, weil wir ihre Nationalität teilen. Diese Fremdscham ist damit auch an eine Eigenscham gebunden, ebenso wie wenn wir vielleicht eine Nachmittagstalkshow verfolgen und uns schämen, dass wir derartige Selbstdemontage unterstützen, indem wir die Zuschauerquoten konstant halten.

„Der Mensch sollte nicht ohne Scham sein. Scham über schamloses Betragen ist der sichere Weg, Beschämendem zu entgehen.“ (Mong Dsi)

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