Wie ein tibetischer Arzt behandelt

Die tibetische Medizin beruht auf enormem Erfahrungswissen. Die Behandlungspraxis verlangt tibetischen Ärzten viel Fingerspitzengefühl und Konzentration ab.

Tibetische Medizin ist eine Erfahrungsmedizin, die seit über 1200 Jahre praktiziert wird. Bis heute verwenden tibetische Ärzte bei Untersuchungen am Patienten keine technischen Hilfsmittel. Dies entspricht ihrer Tradition. Sie erstellen Diagnosen durch Befragen des Patienten, Fühlen des Pulses am Handgelenk und Betrachten des Urins sowie der Zunge.

Tibetische Ärzte sind behandelnde Ärzte und gleichzeitig Apotheker und stellen daher Arzneimittel für die Therapie in der Regel selbst her. Diese Präparate enthalten bis zu 35 verschiedene Stoffe und bei einigen Präparaten, den sogenannten Juwelenpillen, über 100. Für die Herstellung von tibetischen Arzneimitteln werden vorwiegend Pflanzen verwendet. In geringeren Mengen werden auch Mineralien und tierische Substanzen eingesetzt.

Behandlungspraxis in Asien

Das Wissen über die tibetische Heilkunde erlernen tibetische Ärzte während ihrer Ausbildung, die entweder als praktische Ausbildung oder an Universitäten durchgeführt werden kann. Diese dauert im Durchschnitt 8 Jahre.

Neben dem Studium von theoretischen Grundlagen tibetischer Medizin beginnen die Studenten der tibetischen Heilkunde früh mit dem Erlernen einer körperlichen Untersuchung. Diese unterscheidet sich von westlichen Untersuchungsmethoden im Wesentlichen dadurch, dass der tibetische Arzt eine Krankheit vorwiegend durch das Fühlen des Pulses am Handgelenk des Patienten ermittelt. In asiatischen Ländern wie Indien, China, Buthan oder Nepal sind die Menschen mit dieser Untersuchungs­methode vertraut.

Viele Patienten in Asien nutzen die Möglichkeit, sich von einem traditionellen Arzt behandeln zu lassen. Zwar ist die praktizierte Schulmedizin auch in Asien üblich. Traditionelle Heilmethoden jedoch stellen oft eine Alternative dar, die für dortige Verhältnisse relativ kostengünstig ist und der Vertrauen entgegengebracht wird.

Die Infrastruktur ist insbesondere in den ländlichen Gebieten z.B. in Indien und in Nepal kaum ausgebaut. In vielen Gebieten gibt es keine befahrbaren Straßen – nur Wanderwege. Um einen tibetischen Arzt aufzusuchen, müssen viele der Patienten oft lange Wegstrecken zurücklegen. 90 Minuten oder länger sind keine Seltenheit. Festgelegte Sprechzeiten und Terminvergaben gibt es nicht, u.a. da es in ländlichen Privathaushalten in der Regel noch keine Telefonanschlüsse gibt.

Privatleben und Beruf des tibetischen Arztes werden kaum getrennt und feste arbeitsfreie Tage gibt es nicht. Abwesenheiten werden den Patienten wenn möglich mehrere Tage zuvor im Gespräch während des Arztbesuches angekündigt, mit der Bitte, die Information an andere weiterzugeben.

Durchführung einer Pulsdiagnose

Vor der Untersuchung werden meist persönliche Daten des Patienten wie Name, Geschlecht, Alter und Wohnort auf einer Karteikarte erfasst. Manche traditionell arbeitenden tibetischen Ärzte dokumentieren nicht. Sie verlassen sich auf ihre Erfahrung und auch ihr Gedächtnis.

Der tibetische Arzt spricht seinen Patienten zuerst auf allgemeine Gegebenheiten wie Anreise oder das Alter des Patienten an. Im Anschluss wird der Patient über dessen Beschwerden befragt, die parallel dokumentiert wurden.

Das Fühlen des Pulses am Handgelenk des Patienten erfolgt als nächster Schritt. Bei Frauen beginnt der tibetische Arzt am linken Handgelenk, bei Männern am Rechten. Bei der Pulsdiagnose werden Organe mit der Fingerkuppe des Zeige-, Mittel- und Ringfinger abgetastet. Vollorgane wie Herz, Milz und Nieren werden von oben (zum Daumen) gefühlt, Hohlorgane wie Dickdarm, Magen und Harnblase werden von unten (vom Daumen weg) gefühlt.

Hierbei werden die einzelnen Pulsschläge mit der Atmung des Patienten verglichen und auf Unregelmäßigkeiten überprüft. Im Normalfall, d.h. im gesunden Zustand, liegen zwischen Ein- und Ausatmung fünf regelmäßige Pulsschläge. Bei einer Erkrankung des Magens, verändert sich der Pulsschlag am linken Handgelenk des Patienten, welchen der tibetische Arzt mit seinem rechten Mittelfinger von unten fühlt.

Tibetische Diagonse: Bad-rLung

Hier ein Beispiel: Bei der Krankheit mit tibetischem Namen Bad-rLung (phonetisch: Bäh-Lung) ist der Magenpuls langsam und sehr tief absinkend, bläht sich dann leicht und langsam wie ein Blaseblag auf. Die Anzahl der Pulsschläge des Magenpulses liegen hierbei pro Atemzyklus unter fünf. Die Krankheit Bad-rLung wird durch übermäßiges Nachdenken und den Verzehr von zu viel kalten Lebensmitteln, hier: rohes Obst und Gemüse, ausgelöst. Der Patient leidet an Bauchrumoren, Blähungen, gelegentlichen Bauchschmerzen, Schmerzen bei Hunger und muss gelegentlich aufstoßen. Deutsche Namen für tibetische Krankheitsbezeichnungen gibt es nur selten.

Ergeben sich Unklarheiten bei der Pulsdiagnose, befragt der tibetische Arzt den Patienten erneut und wiederholt die Pulsdiagnose. Die Betrachtung der Zunge und der Schleimhaut unter den Augenlidern auf farbliche Veränderungen erfolgt ebenfalls häufig. Urindiagnosen werden aus hygienischen Gründen in kleinen tibetischen Arztpraxen nur selten durchgeführt.

Diagnose und Kräuterpillen

Nach der Untersuchung erfolgt die Dokumentation der Diagnose durch den tibetischen Arzt. Anders als im Westen, wird dem Patienten nicht mitgeteilt, an welcher Krankheit dieser aus tibetisch-medizinischer Sicht leidet. Jedoch erhält dieser stets Informationen über zu bevorzugende und zu meidende Lebensmittel und in einigen Fällen Anregungen, die Lebensweise zu verändern. Bezogen auf die Krankheit Bad-rLung bedeutet dies, ungekochte Speisen zu reduzieren und Mahlzeiten zu möglichst regelmäßigen Zeiten einzunehmen. Ist die Krankheit Bad-rLung stark ausgeprägt, wird dem Patienten geraten, sich wärmer zu kleiden und so weit wie möglich nur mit Menschen zusammen sein, die dieser gern hat. Anschließend legt der tibetische Arzt die Medikation fest. Die Patienten erhalten zwischen einem und vier verschiedenen Präparaten, welche in der Regel für eine Woche ausgegeben werden.

Die tibetischen Arzneimittel, die fast immer in Pillenform verabreicht werden, werden vor dem Patienten aus einem verschließbaren Behältnis mit einem Löffel abgefüllt und mit Hinweisen zur Einnahme wie Menge und Tageszeit beschriftet. Da viele Menschen in ländlichen Gebieten, z.B. in Indien, nicht lesen und schreiben können, werden die Präparate häufig durch Punkte für die Menge (ein Punkt = eine Pille, zwei Punkte = zwei Pillen) und Striche für die Tageszeit (z.B. ein Strich = morgens, zwei Striche = mittags) gekennzeichnet. Namen und Anwendungsbereiche der tibetischen Arzneimittel erfahren die Patienten nicht.

Zum Ende des Arztbesuches wird der Patient gebeten, sich innerhalb einer Woche erneut untersuchen zu lassen oder über Veränderungen des Befindens zu berichten.

Die Ausübung des Berufes erfordert fundiertes Wissen über die tibetische Heilkunde. Die tibetische Pulsdiagnose ist eine einfache und kostengünstige Methode Störungen im Organismus festzustellen, bei der viel Erfahrung, Konzentration und Fingerspitzengefühl benötigt wird.

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