Die Angst über den Wolken – Flugangst oder Aviophobie

Immer mehr Menschen leiden unter Aviophobie. Flugangst ist ein Phänomen, das aus einer schlechten Erfahrung herrühren kann, oder durch verschiedene psychische Einschränkungen entsteht. Aber es gibt Gegenmittel.

Der Urlaubsflug hat sie aus der Bahn geworfen: Annette kann sich nur zu gut an den Beginn ihrer USA-Reise erinnern. Das Flugzeug ist noch nicht lang in der Luft, als ein gellender Schrei die Passagiere erstarren lässt: Feuer. Hohe Flammen schlagen aus einem der Triebwerke. Die Maschine neigt sich gefährlich. Panik bricht aus. Die Kabinenbesatzung versucht vergeblich, Ordnung ins Chaos zu bringen. Kein Wort dagegen aus der Pilotenkanzel. Eine geschlagene Stunde verght, bis der Flugkapitän sich meldet: Gefahr gebannt. Zwar entspannen sich allmählich die vor Schreck verkrampften Muskeln, doch im Inneren rumort es weiter: Herzrasen, Beklemmung, Panik. Gefühle, die Annette in dieser Intensität zum ersten Mal empfindet. Und von nun an nicht mehr los wird.

Feuchte Hände

Flugangst. Feuchte Hände nur beim Anblick eines Jets, Herzklopfen schon beim Geräusch eines Düsentriebwerks. Die Flugangst zwingt die bisherige passionierte Vielfliegerin Annette, am Boden zu bleiben. Ihre letzte Hoffnung: ein Seminar, das ihr wieder zu entspanntem Fliegen verhelfen soll.

Spiel zum Kennenlernen

Szenenwechsel: In hohem Bogen fliegt der kleine Plüschelefant durch die Luft. Wer ihn fängt, nennt seinen Vornamen. Zweite Runde: Der Werfer nennt nun den bei Namen, dem er das Tierchen zuwirft. Ein nettes Spiel zum Kennenlernen. Mehrere Runden saust der Elefent, den alle „Jumbo“ nennen, von einem zum anderen. Bis jemand für einen Moment nicht aufpasst und ins Leere greift – „Jumbo“ stürzt ab.

Agentur gegen Flugangst

Prompt meldet sich die Angst wieder. Aber deshalb sitzt Annette ja mit sechs weiteren Leidensgenossen – drei Frauen, drei Männer – in einem Nebengebäude des Münchner Flughafens. Dort will die Diplom-Psychologin Margret den Seminarteilnehmern die Angst vorm Fliegen nehmen, assisitiert von der ehemaligen Stewardess Anna. Beide Frauen kommen von der Agentur Texter-Millott. Das Münchner Unternehmen hat sich auf Seminare gegen Flugangst spezialisiert und ist einer der wenigen Anbieter auf diesem Gebiet in Europa. Fast fünfzehntausend Menschen besuchten in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren die Seminare. Erfolgsquote: um die neunzig Prozent.

Weg von Baldrian und Cocgnac

Doch warum wollen alle unbedingt (wieder) fliegen? Vier Kursteilnehmer müssen von Berufs wegen in die Luft, die drei anderen wollen möglichst viel von der Welt sehen. Die Berufsflieger müssen regelmäßig nach Frankfurt, Düsseldorf und Berlin, Hongkong oder in eine Stadt in Australien. Die Urlauber haben die USA, die Malediven oder Mauritius auf der Wunschliste. Und jeder will diese verdammte Flugangst verlieren, will weg von Baldrian und Cognac, weg von Valium und Whiskey. Diese Mittel sind keine Lösung, im Gegenteil: Suff und Tranquillizer im Flieger machen alles nur schlimmer. Der Geschäftsmann lallt beim Termin oder wirkt wie weggetreten, die Urlauberin ist fix und fertig am ersten Ferientag. Was also tun?

Eigene Lebensgeschichte

Ein allgemein gültiges Konzept gibt es nicht, da Flugangst eine rein individuelle Sache ist. Die eigene Lebensgeschichte spielt dabei eine wichtige Rolle: Die eine hat das Vertrauen in die Technik verloren, der andere fühlt sich den Piloten völlig ausgeliefert. Misstrauen gegenüber drer Zuverlässigkeit des Personals ist ein weiterer Faktor: Wie gut sind die Flugkapitäne, Mechaniker, Techniker? Dazu kommt viel Irrationales, nicht Erklärbares, irgendwo angesiedelt zwischen Klaustrophobie, Höhenangst und frühkindlichem Psychotrauma.

Individuelle Angstbewältigung

Auch der 11. September 2001 ging nicht spurlos an vielen Fluggästen vorüber. Allerdings hat es den Anschein, dass Kursleiterin Margret das Thema nur ungern vertiefen will. Sie gibt aber zu, dass nach den Terroranschlägen von New York und Washington die Flugangst spürbar zugenommen hat. Dennoch passen die Attentate und die darauf folgende Verunsicherung nicht in ihr Konzept: Sie und ihre Kollegen zielen auf individuelle Angstbewältigung ab, nicht auf kollektive Beschwichtigung vor terroristischen Flugzeugentführern. Und die Statistik gibt ihr Recht: Trotz der erhöhten Flugangst seit dem 11. September stieg die Nachfrage nach den Seminaren keineswegs.

Fäuste ballen

Margret und Anna bieten im Seminar eine Mischform aus Information und körperlichem Training an. Das Wichtigste sind die unterschiedlichen Anspannungs- und Entspannungsübungen, denn, so sagt Margret, in einem entspannten Körper könne sich keine Angst breitmachen. Zunächst übt sie Atemtechniken, dann eine Art Isometrik, die man fast unmerklich auch in einem engen Flugzeugsitz einsetzen kann. Fäuste ballen, Ellbogen an die Seiten pressen, Zehen bei ausgestreckten Beinen heftig nach oben ziehen – und wieder loslassen. Die Kombination wirkt tatsächlich: Nach zehn bis fünfzehn Minuten tritt eine spürbare Entspannung ein.

Freundliche Piloten

Neue Impulse. Zwei selbstbewusste, sympathische Männer kommen in den Seminarraum: Flugkapitän Rainer Winter und First Officer (früher bekannt als Co-Pilot) Markus Friemer. Sie stellen sich geduldig den drängenden Fragen: Kann ein Flugzeug ohne Triebwerke fliegen? Wie war das damals mit der Maschine von Lauda Air, die durch zu frühzeitige Schub-umkehr abgestürzt ist? Was kann die Crew gegen Terroristen und Entführer tun? Die Piloten antworten nach bestem Wissen und Gewissen, bleiben stets freundlich und verbindlich. Katharina, deren Mann eine internationale Spedition betreibt, hakt nach: Von den Fahrern, die oft auch den Münchner Flughafen anfahren, weiß sie, dass viele Frachtcontainer nicht oder nur unzureichend kontrolliert werden. Wer prüft, ob nicht dadurch eine Bombe an Bord geschmuggelt wird? Dagegen könnten auch die „Sky-Marshalls“ – Sicherheitsbeamte, die inzwischen viele Flüge inkognito begleiten, – nichts ausrichten.

Flugzeug-Besichtigung

Ablenkung von derartigen Schreckensszenarien: Der Weg führt uns hinaus zu einer Flugzeug-Werft, einem riesigen Hangar, für Normalbürger eigentlich nicht zugänglich. Rainer Winter präsentiert zunächst einen gewaltigen Jumbo-Jet von außen, führt uns danach zu einer Boeing 737, einem typischen Pauschal-Flieger, erklärt die Maschine genau, versucht, das Gewirr von Schltern, Hebeln, Knöpfen und Anzeigegeräten im Cockpit verständlich zu machen. Inzwischen wiederholt Kursleiterin Margret die Übungen: Muskeln anspannen, locker lassen, ausatmen. Danach demonstriert Anna, wie man eine Schwimmweste gekonnt anlegt.

Entspannt fliegen

Am nächsten Morgen des zweitägigen Seminars wird das Gelernte wiederholt und vertieft. Dann naht die Stunde der Wahrheit: Linienflug von München nach Hamburg und zurück. Mutprobe? Feuertaufe? Manche ballen die Fäuste, atmen tief durch, als die maschine abhebt, dann lesen sie Zeitung oder unterhalten sich. Wie weggeblasen scheinen Anspannung und Nervosität, kein Anflug von Angst in den Gesichtern. Am Hamburger Flughafen wird lebhaft gewitzelt: Ein Stadtbummel wäre jetzt angebracht oder ein Besuch in einem Kaffeehaus. Doch gleich geht es zurück nach München.

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