Visualisieren – die Kraft der Vorstellung nutzen

Die beruhigende und heilsame Wirkung bildhafter Vorstellungen. Viele Entspannungsverfahren arbeiten mit bildhaften Vorstellungen. So spielt Visualisierung auch in der Mittel- und Oberstufe des Autogenen Trainings eine große Rolle.

Wir Menschen sind „Augen-Tiere“. Wenn unser Sehsinn nicht eingeschränkt oder zerstört ist, nehmen wir 60 % aller Informationen über unsere Augen wahr. Zwar ist der Frequenzbereich, in dem wir hören, etwa 10 Mal größer als die Bandbreite der Wellenlängen, die wir sehen können. Dennoch sind visuelle Reize am stärksten. Man denke nur an die Wirkung erotischer Bilder. Und schon ein Foto unseres Lieblingsessens lässt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Bilder wecken Gefühle, das gilt im negativen und im positiven Sinne. So lösen Szenen voller Gewalt und Darstellungen von Kriegsgräuel und Folter bei den meisten Menschen Entsetzen aus. Fotos und Filme von Katastrophenopfern, von Kranken und Hungernden stimmen traurig und wecken Mitgefühl. Dagegen üben harmonische Bilder wie zum Beispiel Naturfotos eine beruhigende und sogar heilsame Wirkung auf uns aus. Der letztere Effekt wird beim Visualisieren und meditativen Imaginieren genutzt.

Was versteht man unter Visualisieren?

Per Definition bedeutet Visualisieren nichts anderes als einen in Worte gefassten Inhalt in Bildersprache zu übersetzen. Das kann mit Hilfe von Grafiken, Diagrammen, Bildern oder auch Karikaturen geschehen. Denn auch hier gilt: ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Im Übrigen gibt es zwei Arten des Sehens: die unmittelbare und die aufmerksame. Beim unmittelbaren Sehen nehmen wir Formen, Farben, Gegenstände und Bewegungen eher intuitiv wahr, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Unbewusst werden alle unwichtigen Informationen ausgeblendet. Erst beim aufmerksamen Betrachten erschließt sich der Zusammenhang. Wir lesen einen Text, betrachten ein Foto oder schauen einen Film an. Dabei arbeiten beide Gehirnhälften getrennt. Beim Rechtshänder ist die rechte für die ganzheitliche Wahrnehmung zuständig, also das unmittelbare Sehen. Die linke Gehirnhälfte sieht Details, analysiert das Gesehene/Gelesene und verarbeitet es. Beim Visualisieren arbeiten beide Gehirnhälften zusammen, das heißt, wir erfüllen die Bilder in unserem Kopf mit Leben und nehmen sie mit allen Sinnen wahr. Wer sich etwa eine blühende Wiese vorstellt, hört das Summen der Bienen, spürt das Gras unter seinen Füßen und riecht den Duft der Blumen.

Was bringen Visualisierungsübungen?

  • Sie wirken entspannend

Kreatives Visualisieren ist Bestandteil vieler Entspannungstechniken. Dabei dienen die inneren Bilder dazu, tiefer in die Entspannung einzutauchen und störende Gedanken in Schach zu halten. Es gibt eine Fülle von Anleitungen für meditative Bildbetrachtungen, Fantasiereisen oder Tagträume. Am besten schöpft man jedoch aus dem persönlichen Fundus schöner Erinnerungen und denkt zum Beispiel an einen wunderschönen Urlaubstag. Wird diese Erinnerung dann in allen Details ausgeschmückt, ist der Zustand wohliger Entspannung schon fast vorprogrammiert.

  • Sie wirken heilsam

Bildhafte Vorstellungen werden in der ganzheitlich orientierten Medizin eingesetzt. Man spricht entweder das betreffende Organ oder die Körperfunktionen direkt an. Wer einen Infekt bekämpfen möchte, kann sich die Killerzellen seiner Immunabwehr bildhaft vorstellen, wie sie eindringende Viren und Bakterien vernichten. Einen Entzündungsherd im Körper löscht man in der Vorstellung wie die Feuerwehr. Der indirekte Weg wäre, sich den gewünschten Endzustand plastisch auszumalen. Wer etwa nach einer Operation oder einem Unfall wieder mühsam Laufen lernt, sieht sich in der Imagination Spaziergänge oder gar Wanderungen unternehmen.

  • Sie erleichtern das Lernen

Je abstrakter der Begriff ist, desto schwieriger wird dessen bildhafte Darstellung. Dies ist ein Grund, warum wir „trockene“ Inhalte wie juristische Paragraphen oder chemische Formeln so schlecht im Gedächtnis behalten. Wem es gelingt, den Unterrichtsstoff in Gedanken zu bebildern, der tut sich wesentlich leichter mit dem Lernen. Wer mag, übt schon mal mit Vokabeln. Man stelle sich zum Beispiel ein stolzes Ross vor, auf dessen Rücken der Begriff „cheval“ sitzt, das französische Wort für Pferd. Oder die Buchstaben „snake“, die sich als Schlange im Gras winden. Wer dieses absurde Bild verinnerlicht hat, wird diesen englischen Begriff wohl nie wieder fälschlicherweise mit „Schnecke“ übersetzen.

  • Sie helfen, Ziele zu verwirklichen

Wir können nichts (er)schaffen, was wir nicht vorher in Gedanken schon getan haben. Und was wir denken, hat das Bestreben, sich zu verwirklichen. Wer sich für eine neue Stelle bewirbt, sollte sich schon vor dem Vorstellungstermin ausmalen, tatsächlich in dieser Firma zu arbeiten. Solches Wunschdenken zaubert zwar nicht den Einstellungsvertrag herbei. Doch wer daran zweifelt, die im Stellenangebot beschriebenen Anforderungen erfüllen zu können oder meint, in dem Unternehmen am falschen Platz zu sein, geht wohl kaum mit der nötigen Zuversicht und Selbstsicherheit ins Vorstellungsgespräch. Dieser zielgerichtete Ansatz wird in vielen Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung genutzt.

Der innere Ort der Ruhe – Beispiel für eine Visualisierungsübung

Dieser persönliche Rückzugsort kann ein Zimmer sein, eine Höhle oder ein Platz im Freien, an dem man sich gerne aufhält. In der Übung gilt es, diesen so detailliert wie möglich auszuschmücken, ob man nun einen Raum gemütlich einrichtet oder sich vorstellt, an einem sonnigen Strand zu liegen und aufs Meer hinauszuschauen. Die folgende Anleitung ist nur ein Vorschlag unter vielen. Sie ist in der Ich-Form gehalten, wie im Autogenen Training üblich und wird wie dieses durch intensives Recken und Strecken beendet.

„Ich mache es mir im Sitzen oder Liegen so bequem wie möglich und schließe die Augen. Erst nehme ich meinen Atem nur wahr, ohne ihn zu lenken. Danach atme ich bewusst durch die Nase ein, durch den Mund aus und stelle mir dabei vor, alles Störende und Belastende mit dem Ausatmen loszulassen. Vor dem nächsten Einatmen gönne ich mir eine kleine Atempause. Mit jedem Ausatmen tauche ich tiefer in die Entspannung hinein. Vielleicht breiten sich Farben vor meinem inneren Auge aus, vielleicht tauchen Bilder aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Sind diese angenehm, so wähle ich ein Motiv aus, das ich näher betrachten möchte und für meinen Ort der Ruhe benutzen kann. Sind die Bilder störend und belastend, dann ziehe ich in Gedanken einen Vorhang davor. Oder ich stelle mir vor, dass sie von alleine weiterziehen, wie Wolken am Himmel. Ich konzentriere mich jetzt auf meinen ganz persönlichen Ort der Ruhe, schmücke ihn nach Belieben aus, verweile dort so lange ich möchte und genieße mit allen Sinnen diesen Kurzurlaub vom Alltag“.

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