Was heißt Erzählen?

Das Erzählen stellt einen effizienten Strukturbildungsprozess dar, der in vielen Lebensbereichen des Menschen wiederzufinden ist. Ein Überblick.

Man erzählt sich Witze und seine Sorgen. Man erzählt sich Gute-Nacht- oder Gruselgeschichten. Man geht ins Kino und schaut sich einen Spielfilm an oder liest zuhause einen Roman. Ereignen sich Autounfälle, werden diese später ebenfalls in Form von Geschichten rekonstruiert. Fernsehwerbung funktioniert über das Erzählen, Therapien verlaufen in Form von Erzählungen, die Pädagogik greift auf das Erzählen zurück, um Kindern Lerninhalte zu vermitteln. Diese Liste ließe sich noch weiter führen. Das Erzählen scheint universal zu sein, eine anthropologische Konstante. Doch wie ist es dimensioniert, was gilt bei einer Betrachtung zu beachten, und wie kann man eine solche Betrachtung nutzen, um mehr über den Menschen und sein Denken in Erfahrung zu bringen?

Auffassungen über das Erzählen

Augenscheinlich hat das Phänomen des Erzählens eine strukturale und eine funktionale Dimension. Die in den 70er Jahren in Frankreich, Deutschland und Amerika entstandene Narratologie (Erzähltheorie) versteht das Erzählen als inhalts- oder formbasierten Strukturbildungsprozess. In der Forschung wird entweder davon ausgegangen, dass eine Erzählung mindestens ein Ereignis beinhaltet und damit aus einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss besteht. Darüber hinaus kann aber auch formal davon ausgegangen werden, dass es jemanden geben muss, der das Erzählte vermittelt, also erzählt, oder allgemeiner: die Erzählung gestaltet. Letzteres meint im Falle der fiktionalen Erzählung die Fähigkeit des Erzählers, das Innenleben von Figuren wiederzugeben. Das alltägliche (oder faktuale − im Gegenteil zum fiktionalen) Erzählen wird größtenteils unter funktionalen Gesichtspunkten untersucht. Leitfragen sind hier: Aus welchen Gründen erzählt der Mensch? Und welche Funktionen nimmt das Erzählen im Alltag ein?

Sprache und Erzählen

Ein Ausgangspunkt ist der Zusammenhang von Erzählen und Sprache. Die Sprache ist das elementarste Kommunikationsmittel des Menschen und formiert das ursprüngliche oder prototypische Erzählen. Sie gelangt im Alltag und in der Literatur zur Anwendung. Die klassische Narratologie beruft sich (beinahe) ausschließlich auf das verbale Erzählen, eine Tatsache, die insbesondere bei der Übertragung auf das Erzählen in anderen Medien zu Problemen geführt hat.

Hinsichtlich des verbalen Erzählens ergibt sich die wichtige Erkenntnis, dass jedes Erzählen einen Erzähler voraussetzt. Mit anderen Worten: Das Erzählte wird stets mehr oder weniger mittelbar präsentiert. Eine weitere Erkenntnis besagt: Die Geschehnisse, von denen erzählt wird, liegen zeitlich vor dem Zeitpunkt des Erzählens. Jedes Erzählen ist folglich auch ein retrospektives Erzählen oder besser: ein Erzählen von nicht-aktuellen Geschehnissen.

Anthropologie des Erzählens

Dieser Aspekt spielt für den Menschen eine wesentliche Rolle. Rückblickend lassen sich Geschehnisse konservieren und an andere Menschen weitergeben. Wenn sich Informationen erzählerisch speichern lassen, können Identitäten von Einzelnen, von Familien und von ganzen Staaten gebildet, aber auch lebenswichtige Mitteilungen überbracht werden. Erdachte (fiktionale) Erzählungen sind überdies mentale Spielplätze des Menschen. In ihnen können Dinge durchgespielt werden, die in der Realität nicht oder noch nicht stattgefunden haben oder niemals stattfinden können und dennoch ein Nachdenken über Reales anregen.

Denken und Erzählen

Wenn von Identitäten gesprochen wird, so deutet dies auch auf die These hin, dass der Mensch im weitesten Sinn in Geschichten verstrickt ist. Das menschliche Denken verläuft in vielen − aber nicht allen − Lebensbereichen in narrativen Strukturen. Im Rückkehrschluss bedeutet das, dass der Mensch vieles − und auch sich selbst − oftmals nur dann versteht, wenn er erzählt: Ein ausformulierter Lebenslauf ist aufgebaut wie eine Geschichte. Jeder Bericht über etwas Erlebtes ist eine Art Geschichte. Auf diese Weise bauen die Menschen ihre Identitäten. Im alltäglichen Leben begegnet man immer wieder Geschichten, die das Chaos der Welt in eine Ordnung bringen: Nachrichten, Unfallhergänge, Berichte über Lebenskrisen.

Der Mensch hat verschiedenste Strategien entwickelt, sein Denken zu strukturieren, Beobachtetes zu abstrahieren und mit anderen Individuen zu kommunizieren. Das Erzählen scheint dabei eine der elementarsten Strategien zu sein.

Medien und Erzählen

Das Erzählen ist nicht auf das verbale Erzählen beschränkt. Seit jeher erzählt der Mensch auch in anderen Medien. Heutzutage sind eine Reihe von narrativen Medien zu nennen: der Roman, der Spielfilm, der Comic, das Hörspiel, das Computerspiel, Kurzfilme auf YouTube, Hyperfiction im Internet und vieles mehr. Diese Tatsache weist darauf hin, dass das Erzählen ein menschliches Bedürfnis ist. Medien werden unter anderem dafür geschaffen, um Erzählungen zu gestalten. Blickt man indes auf die Vielfalt des medialen Angebots von Erzählungen, so stellt sich aber auch die Frage, welche Merkmale das Erzählen eigentlich auszeichnen. Das inhaltliche Kriterium der Präsentation von mindestens einem Ereignis und der Struktur von Anfang, Mitte und Ende scheint unumgänglich für die Annahme einer Erzählung zu sein. Doch wie steht es um die formale Gestalt? Ja, sich erinnernde Figuren gibt es in fast jeder Geschichte. Ist aber nicht der Erinnerungsprozess im Film gänzlich anders dargestellt als in einem literarischen Text? Sprache erzählt anders als Bilder, diese wieder anders als bewegte Bilder und diese anders als Töne und Klänge. Das Erzählen ist folglich medienübergreifend präsent und zugleich medienspezifisch ausgeformt. Als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand (der Narratologie) wird er so gleichsam interessant und schwer greifbar.

Bedeutungen des Erzählens

Was bedeutet all das? Bei der Betrachtung unterschiedlicher Epochen des Erzählens lassen sich Rückschlüsse auf Kulturen, Moralvorstellungen, politische Systeme oder allgemeiner: den Zeitgeist einer Epoche ziehen. Das Erzählen ist nicht nur kulturübergreifend vorhanden, sondern zudem historisch variabel. Niemand wird leugnen können, dass aufgrund der medialen Umgebung heute anders erzählt wird als vor 200 Jahren. Aber um 1811 wurde sicherlich anders erzählt als um 1500 usw.

Und welcher Zeitgeist herrscht heute vor? Genau bestimmen lässt er sich sicherlich nicht. Man kann aber mit Blick auf die Formen des Erzählens sagen, dass zwei wesentliche Wesenszüge signifikant hervotreten: der Hang zur Akkumulation und die Flüchtigkeit von Informationen beim gleichzeitigen Drang zur digitalen Konservierung.

Der heutige Mensch hat (über das Internet) vermeintlich zu jedweder Information Zugang und kann diese nutzen. Zugleich wird die Vergänglichkeit einer Information durch die Fülle an Informationen insgesamt herbeigeführt. Die Konsequenz dieser Problemstellung wird abermals vermeintlich dadurch gelöst, dass Informationen digital gespeichert werden können. Dies betrifft auch die Erzählung. Offensichtlich geht aber mit der Pluralisierung der medialen Möglichkeiten auch die Unmöglichkeit des Einzelnen einher, alles erfassen können.

Fazit: Das Überangebot zerfrisst sich selbst. Der Vorteil: Man kann alles, was man möchte konsumieren. Der Nachteil: Man wird niemals einen Überblick erhalten können. Was bleibt ist das Erzählen. Man wird sich sicher sein können, dass es auch bei der aktuellen Entwicklung des Web 2.0 siegreich hervortreten wird.

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