Mehr als gesund essen: Orthorexie

Gesund essen tut gut. Doch eine ständige Angst, etwas Falsches zu essen, macht krank. Wo ist die Grenze zwischen Gesundheitsbewusstsein und Zwanghaftigkeit?

Die richtige Ernährung hat für Gesundheit und Schönheit eine ganz entscheidende Bedeutung. Doch manche tun zu viel des Guten – und werden dadurch krank. Neben Anorexie und Bulimie gibt es immer häufiger die sogenannte Orthorexie.

Orthorexia nervosa – krankhafte Fixierung auf richtige Ernährung

Immer mehr Menschen scheinen in Gefahr zu geraten, sich auf fast krankhafte Weise um ihre Ernährung zu kümmern. Experten sprechen von „Orthorexia nervosa“, was so viel heißt wie „krankhafte Fixierung auf richtige Ernährung“ (vom griechischen „orthos“ = richtig und „orexis“ = Appetit). Betroffen sind überwiegend Frauen mit guter Schulbildung zwischen 20 und 40, aber zunehmend auch Männer. Dass sie immer auf dem neuesten Stand sind, was das Wissen über Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Bioaktiv-, Schad- und Zusatzstoffe, beste Erntezeiten, seriöse Bezugsquellen und schonende Zubereitungsmethoden angeht, wäre kein Grund zur Besorgnis. Doch im Leben von „Health Food Junkies“ kreisen die Gedanken nur um ein Thema: Welche Substanzen darf ich meinem Körper zuführen und in welchem Nahrungsmittel sind diese in optimaler Menge und ohne Schadstoffe vorhanden? Diese Fragen zur gesunden Ernährung nehmen so viel Raum ein, dass der Platz für den ganz normalen Alltag mit all seinen Möglichkeiten zusehends schrumpft.

Während sich für Mager- und Esssüchtige alles um Kalorien und Gewicht dreht, leiden Orthorektiker seelische Qualen, wenn sie das Gefühl haben, einen „Fehler“ in ihrem Speiseplan gemacht zu haben oder wenn ihre Ernährung „aus dem Ruder“ zu laufen droht. Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn man auswärts isst. Das Angebot von Kantinen oder Restaurants wird argwöhnisch geprüft und oft nur mit ein paar Gabelstichen gekostet, oft genug, um es dann liegen zu lassen. Zu hungern erscheint als die bessere Alternative, ehe man sich eine Mahlzeit zweifelhafter Zusammensetzung einverleibt. Um bei Einladungen nicht Dinge in sich aufnehmen zu müssen, die dem persönlichen Ernährungsplan zuwiderlaufen, werden häufig Unverträglichkeiten oder Allergien vorgeschoben, um die Gastgeber nicht zu verprellen. Manche dieser Perfektionisten nehmen gar keine Einladungen mehr an, denn man kann ja nie wissen, was in fremden Küchen so vor sich geht…

Große Einschränkungen durch übertriebene Ernährungsrituale

Experten wissen: Wer mit diesen Zwängen lebt, ist nicht gesund und wird einsam. Denn die in dieser Problematik gefangenen Personen neigen dazu, sich selbst und anderen gegenüber ein unnachgiebiges Verhalten an den Tag zu legen. Da gibt es Rituale, die für den „Durchschnitts-Esser“ kaum mehr nachvollziehbar sind. So wird beispielsweise das Gemüse aus dem eigenen Garten nur zu einer bestimmten Tageszeit geerntet (was für viele noch durchaus nachvollziehbar ist) und wenige Minuten später muss es verzehrt sein, damit auch wirklich alle wertvollen Stoffe im Körper ankommen.

Was ist normal und was ist krankhafte Übertreibung? Es ist vollkommen normal, dass man darauf achtet, woher die Lebensmittel kommen. Krankhaft wird es dann, wenn die Personen wegen ihrer Ess-Prinzipien große Einschränkungen in Kauf nehmen, die die gesamte Lebensgestaltung einengen. Ärzte haben Patienten stationär einweisen müssen, weil sie auf ihre Ernährungs-Rituale nicht verzichten konnten, ohne psychosomatische Beschwerden zu bekommen. Diese Patienten haben teilweise sogar ihren Beruf aufgeben müssen. Doch das sind natürlich seltene Ausnahmefälle. In der Regel bleibt das selbstquälerische Verhalten ziemlich verborgen. Die Umgebung spürt allenfalls, dass jemand sehr „heikel“ ist mit dem Essen.

Essverhalten: Spiegel der Seele

Essen ist weit mehr als Nahrungsaufnahme, und Satt-Sein ist weit mehr als ein gefüllter Magen und ein entspanntes Sättigungszentrum. Unser Umgang mit dem Essen ist ein extrem komplexes Geschehen. Entsprechend störanfällig ist es. Durch „zu viel“, „zu wenig“ oder durch eine Fixierung auf bestimmte Nahrungsmittel gleichen wir unbewusst etwas aus, was nichts mit dem Stoffwechsel im Körper zu tun hat. Es geht um die Fähigkeit, sich an Kontakt und Austausch satt zu „essen“. Kommunikation ist die Nahrung der Seele.

Beratungsstellen wissen, dass das Krankheitsbild der Orthorexie häufiger wird. Als Grund vermuten die Experten: Immer mehr Menschen sind beruflich und in ihrem sozialen Umfeld so stark beansprucht, dass sie ihre verbliebenen Energien nur darauf verwenden, das Bild einer heilen Welt aufrecht zu erhalten. Sie gehorchen den Anforderungen der Gesellschaft, die da heißen „sei jugendlich, schön, schlank, sportlich, erfolgreich, interessant …“ Wenn ein prominenter Sympathieträger behauptet, seine Jugendlichkeit und seinen Erfolg verdanke er gesunder Ernährung, dann glauben manche Menschen, sie müssten nur endlich das Richtige essen, um ein besseres Leben zu haben.

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