Retroviren – Evolutionsmotor oder tickende Zeitbombe im Genom?

Retroviren gelten evolutionsbiologisch als „Geburtshelfer“ der Menschheit und können dennoch für den Menschen sehr gefährlich werden, wie z.B. die HI-Viren.

Während der Entschlüsselung des menschlichen Genoms machten die Wissenschaftler im Jahr 2001 eine spektakuläre Entdeckung: es besteht zu 9% aus Retroviren und zu 34% aus Viruspartikeln, d.h. insgesamt zu 43% aus viralem Erbgut. HI-Viren, die Erreger der gefürchteten Immunschwächekrankheit AIDS, sind auch Retroviren. Das klingt zunächst einmal ziemlich paradox, zumal Millionen von Menschen auf der ganzen Welt tagtäglich den Kampf gegen diese schlimme Krankheit verlieren. Spielt die Natur hier ein doppeltes Spiel? Natürlich nicht. Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, muss man mehr über die Entstehung und die Natur der Retroviren wissen.

Entstehung der Retroviren durch Genparasitismus

Retroviren sind RNA-Viren und heißen deshalb so, weil sie Reverse Transkriptase bilden. Mithilfe dieses Enzyms gelingt es Retroviren, dem Wirtsorganismus ihren genetischen Code „aufzuzwingen“, denn nur so können sie sich vermehren. Laut neuesten evolutionsbiologischen Erkenntnissen begann die Geschichte der Retroviren bereits in der frühesten Urzeit, in einer Zeit, als es noch nicht einmal Bakterien gab. In jener präbiotischen Welt gab es also nur primitive Ur-Viren, kleinste „aggressive“ Erbgutpartikel, die lediglich eines „im Sinn hatten“: sich so schnell wie möglich zu vermehren. Da es zu jener Zeit aber keine lebenden Wirtsorganismen gab, fielen die Ur-Viren so lange gegenseitig übereinander her und programmierten einander so lange gegenseitig um, bis sich im Zuge dieser primitiven „Sandkastengenetik“ die ersten RNA-Viren bildeten. Sie gelten auch heute noch als „Erfinder“ des Genparasitismus, einer sehr effektiven Vermehrungsstrategie.

Mit Zunahme der Komplexität der Wirtsorganismen mussten die Retroviren ihre „Strategie“ allerdings stark verändern, sich in ihrem Vermehrungsmodus den gegebenen Bedingungen optimal anpassen. Ihre „grobschlächtigen“ Urvorfahren mussten noch keine große „Rücksicht“ auf ihre Wirte nehmen, zumal es sich bei diesen bloß um leblose Replikationsmedien handelte. Was nicht lebte, konnte faktisch auch nicht getötet werden. Viren zählen ja aus biologischer Sicht nicht zu den Lebewesen, weil sie über keinen eigenen Stoffwechsel verfügen. Sie benötigen eine lebende Wirtszelle, um sich vermehren zu können. Diejenigen Retroviren also, die sich später in komplexen Organismen vermehrten, mussten somit sehr darauf „achten“, dass sie durch ihre zellzerstörende Vermehrungsstrategie nicht zugleich ihre gesamte Wirtspopulation vernichteten, denn damit hätten sie sich auch selbst ausgelöscht. Nun sind Retroviren natürlich keine intelligenten Wesen, die sich irgendwelche ausgeklügelten Strategien ausdenken. Sie sind im Grunde genommen ganz primitive Wesen und bestehen nur aus einem Informationsspeichermedium (RNA) und einer Hülle (Kapsid). Trotz (oder gerade wegen) ihrer banalen Einfachheit besetzen Retroviren dennoch eine beachtlich große „Nische“ in unserem vernetzten Ökosystem, zumal sie im Erbgut fast aller Lebewesen zu finden sind.

Retroviren im menschlichen Genom durch Symbiogenese

Der visionäre Evolutionsbiologe Frank Ryan geht von der These aus, dass Retroviren einen maßgeblichen Einfluss auf die Evolution des Menschen ausgeübt haben könnten und bezeichnet sie sogar als „Geburtshelfer“ der Menschheit. Laut seiner Theorie verschmolzen Mensch und Virus im Laufe der Evolution zu biologischen Mischwesen, zu so genannten „Holobionten“. Der sehr hohe virale Anteil im menschlichen Erbgut sei nur durch eine derartige „Symbiogenese“ zu erklären, so Ryan. Deshalb betrachtet er Retroviren auch nicht mehr als „reine Parasiten“, sondern als „Symbionten“. Ryan stützt seine These auch auf die Tatsache, dass Retroviren heute immer noch parallel auf zweierlei Art und Weise übertragen werden können:

  • horizontale Übertragung (exogen) durch Ansteckung
  • vertikale Übertragung (endogen) durch Vererbung über die Nachkommen

Exogene Retroviren, wie z.B. HI-Viren, werden horizontal über den Blutweg ( kontaminierte Nadel, Verletzung) und über Körpersekrete (Sexualkontakt, Muttermilch) von Wirt zu Wirt übertragen. Endogene Retroviren hingegen sind im Laufe der Evolution zu einem integralen Bestandteil des menschlichen Erbguts geworden und werden so vertikal über Vererbung von Generation zu Generation übertragen. Ryan geht sogar davon aus, dass sich exogene Retroviren im Laufe der Evolution generell einem „Endogenisierungsprozess“ unterziehen. Dabei verlieren sie ihre krank machenden Eigenschaften und verschmelzen mit dem Erbgut ihrer Wirtsorganismen. Seiner Ansicht nach könnten die extrem gefährlichen HI-Viren theoretisch irgendwann einmal ebenfalls ihre krank machenden Eigenschaften „ablegen“ und sich ins menschliche Erbgut „einschleichen“. Er bezieht sich dabei auf neueste veterinärmedizinische Studien aus Australien. Diese berichten über „spontane Endogenisierungsprozesse“ von Retroviren bei Koalabären. Zuvor krank machende Retroviren verschmolzen mit dem Genom einiger Koalabären und verloren dadurch ihre Pathogenität. Ursachen und Hintergründe, die derartige Prozesse steuern, sind allerdings noch zu klären.

Tickt in unserem Genom eine biologische Zeitbombe?

Wissenschaftlich zu klären bleibt auch noch die Frage, ob die bereits in unserem Erbgut implementierten endogenen Retroviren ihre ehemals krank machenden Eigenschaften irgendwann einmal wieder aufnehmen könnten. Und wenn dies geschehen würde, wie könnte sich dann unser Körper gegen diesen völlig „unsichtbaren Feind“ wehren? Unser Immunsystem vermag zwar die meisten im Blut und Gewebe befindlichen Erreger aufzuspüren und durch Antikörperbindung ( Markierung der Erreger durch spezielle Abwehrproteine) und Phagozytose ( Einverleibung der markierten Erreger durch Fresszellen) zu vernichten, gegen den gut versteckten Feind im Erbgut hingegen hätte es nicht die geringste Chance. Ein derartiges „Szenario“ scheint angesichts der zunehmenden gentechnologischen Eingriffe in die Natur nicht ganz abwegig zu sein, da derart „stochastische Eingriffe“ in den komplexen evolutionären Kontext sicherlich nicht „vorgesehen“ waren.

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